von Stephan Packard
Wer kontrolliert den Mediengebrauch? Wie werden Kontrollinstanzen unsichtbar? Unter welchen Umständen können die Kontrolleure sichtbar gemacht werden? Welche implizite Regulierung von Kommunikation ist für deren Gelingen unverzichtbar? Und wie kann diese implizite Kontrolle dennoch expliziter Kritik ausgesetzt und gezielten Veränderungen unterworfen werden? Dieser Beitrag plädiert für eine Diskursanalyse medialer Kontrolle und schlägt zwei Fragen vor, die an jede mediale Machtausübung zu stellen sind: Wer steht draußen? Und was steht überall?
1. Diskurse medialer Kontrolle
Die aktuellen Kontroversen um Zugangserschwerungsgesetze, Plagiats-enthüllungen, Jugendmedienschutz- und Urheberrechtsnovellen, Leistungsschutzrechte, Datenvorratsspeicherung, Street View, Wikileaks, Netzneutralität und viele verwandte Phänomene machen einen erheblichen wahrgenommenen Orientierungsbedarf im Umgang mit neuesten Medien und neuen Gesellschaftsentwürfen deutlich. Regelmäßig äußert sich dieser Bedarf in einem Begehren nach medialer Kontrolle: Nach der Kontrolle des Urhebers über die Verwendung seiner Produkte, der Kontrolle des Individuums über den Zugang zu seinen privaten Daten oder der Kontrolle des Staates über die Geheimnisse, durch die er sich nicht zuletzt definiert (vgl. Horn 2003). Stimmen, die in neuesten Medien einen Kontrollverlust behaupten oder befürworten (vgl. Seemann 2012), erheben ebenso offen Forderungen nach komplementären Kontrollen: Nach einer verbindlichen Netz- und Plattformneutralität, die die gleichmäßige Übermittlung von Daten verschiedener Art garantiert, nach der Transparenz von Regierungsinstanzen, die deren Kontrolle durch die Öffentlichkeit ermöglicht, oder nach dem Einsatz von Open Source Software, die ihre Funktionen und Schwächen offenlegt und so kontrollierbar macht.
In allen diesen Kontroversen wird die Ausübung von Macht verhandelt. Insofern die fraglichen Machtstrukturen hier die Form medialer Kontrolle annehmen, sind sie einerseits als Deklinationen von Kontrolle, also als Überwachung, Steuerung und Intervention eines Prozesses durch einen anderen zu beschreiben. Andererseits wird die Kontrolle genuin medial, weil in ihr die Überwachung, Steuerung und Intervention zugleich eine für Medienphänomene typische Verdoppelung ihres jeweiligen Gegenstandes übernehmen: Denn da Medien stets weiterverweisen, dividieren sie ihre Gegenstände in den augenscheinlichen Content, die thematische Referenz eines Medienangebots, und jene Message, die mit McLuhan gesprochen stets ein weiteres Medium ist (McLuhan 1964).[1] Es soll jeweils (oder soll gerade nicht) ein bestimmter Mediengebrauch kontrolliert werden, um so Kontrolle über noch einen weiteren Gegenstand auszuüben: Datenvorratsspeicherung überwacht Telekommunikation und soll wiederum je nach Kontext die Überwachung der Konsumenten von Kinderpornographie, die Intervention gegen die Verletzung von Urheber- und Verwerterrechten oder die Überwachung der internen Kommunikation des organisierten Verbrechens ermöglichen. Indem Wikileaks die Kommunikation amerikanischer auswärtiger Dienste offenlegte, sollte deren Handlungsweise einer präziseren demokratischen Machtausübung als einer weitergehenden Steuerung zugänglich gemacht werden. Ob Guttenplag offen und ohne die Furcht vor Repressalien betrieben werden kann, entscheidet darüber, ob der geäußerte Plagiatsverdacht öffentlich verhandelt werden kann – und mehrheitlich wird dessen Verhandlung nicht nur als Selbstzweck, sondern wiederum als Voraussetzung politischer Konsequenzen diskutiert. Mediale Kontrolle kann damit vorläufig definiert werden als jene Form der Machtausübung, die durch Kontrolle eines Mediengebrauchs zugleich einen dritten Prozeß kontrolliert.
Wie zwischen Content und Message stets der Fall, besteht dabei die Tendenz einer gegenseitigen Invisibilisierung (vgl. Schmidt 2003, Krämer 2008): Die Kontrolle des unmittelbaren Mediengebrauchs kann die mittelbare Kontrolle des Dritten verdecken oder von ihr verdeckt werden. Das 2010 verabschiedete Zugangserschwerungsgesetz wurde lange Zeit mit dem Fokus auf die damit anvisierte Kontrolle über die Produktion von Kinderpornographie diskutiert, während die damit implizierte direkte Kontrollinfrastruktur ausgeblendet wurde. Umgekehrt präsentierte Wikileaks einen riesigen Umfang an Daten, ohne ebenso explizit jene politischen Konsequenzen zu beschreiben, die dadurch erreicht werden sollten. Ja gerade weil Wikileaks auf jene Konsequenzen immer wieder verwies, ohne sie genauer zu bezeichnen, konnte der Umgang mit den veröffentlichten Daten den Anschein einer Relevanz für jedermann gewinnen, obwohl kaum jemand die Daten selbst in wesentlichem Umfang studierte; und konnte der Effekt der Enthüllungsmaßnahmen trotz der anhaltenden massiven Auseinandersetzung um ihre Kontrolle überraschend gering scheinen.[2]
Diese Verwechslung von scheinbar außermedialem Content und stets wiederum medialer Message begleitet freilich jede Form von Mediengebrauch: Wer beim Betrachten eines Films die Kamera, beim Lesen eines Buchs die Buchstaben vergißt, tut nichts anderes; ebenso wie umgekehrt derjenige, dessen Begeisterung für ein Medienangebot ihn erst nach jenen Inhalten suchen läßt, die damit konsumiert werden können, der also etwa mit hohem kulturelle Prestige gerne liest und daher über alle möglichen Themen zu lesen beginnt, oder mit viel geringerem Prestige gerne fernsieht und sich daher alles mögliche ansieht. Aber weil mediale Kontrolle mithin kontrovers ist, wird diese allgemeine Sollbruchstelle zwischen Content und Message immer wieder als spezifische Frontlinie im Streit um die jeweilige Machtausübung funktionalisiert. Der Diskurs über mediale Kontrolle ist politisch und deswegen stets strittig. Wie andere strittige Diskurse bedarf er unentschiedener Fragen, über deren Entscheidung gestritten werden kann (vgl. Foerster 1993; Rancière 1995). Er findet die Indifferenzen, die objektiven Unentscheidbarkeiten, die parteiisch verschieden redifferenziert werden sollen, regelmäßig in der im Mediengebrauch verschwindenden Differenz zwischen unmittelbarem und mittelbarem Objekt der Kontrolle. Dadurch werden Invisibilisierung und Revisibilisierung strategisch: Die durch das Zugangserschwerungsgesetz definierte Kontrollinfrastruktur oder die fragliche Konsequenz der geschehenen Wikileaks-Veröffentlichungen offenzulegen, ist jeweils eine politische Handlung, die typischerweise mit revelatorischer Geste und metapolitischem Anspruch einhergeht.[3]
Nun ist mediale Kontrolle nicht allein eine Frage von Technologien, sondern von kulturellen Formen, insofern jeder Mediengebrauch ein unhintergehbar kulturelles Phänomen ist. Von materiellen und technischen Bedingungen hängt er unzweifelbar ab, sie determinieren ihn jedoch nur zu einem gewissen Grad: Weder treibt die Erfindung einer neuen Technologie eine Kultur willenlos vor sich her – Videotelephonie steht etwa seit den frühen 1980er Jahren zur Verfügung, wurde aber erst zwei Jahrzehnte später breit angenommen; noch werden bestimmte Wahrnehmungen und Weltsichten erst durch eine neue Medientechnik möglich – so geht etwa die visuelle Präsentation einer objektiven und interpretationsoffenen, gegenständlichen Welt der Einführung der Photographie um mehrere Jahrzehnte voraus (vgl. Rancière 2003) und bestimmt im ausgehenden 19. Jahrhundert eher die Deutung der neuen technischen Möglichkeiten, als daß sie deren unmittelbare Konsequenz wäre. Insofern Differenzen über mediale Kontrolle kulturell verfaßt sind, lohnt sich die Analyse der Diskurse medialer Kontrolle: Jener Formen, in denen mediale Kontrolle beschrieben und um mediale Kontrolle gestritten, und in denen daher auch Content und Message in gegenseitiger Invisibilisierung immer wieder gegen einander ausgespielt werden. Die Diskurse medialer Kontrolle werden dabei verstanden als Summe all jener – juridischen, legislativen, exekutiven, politischen, propagandistischen, feuilleutonistischen, interpretierenden, kritischen, ästhetischen, philosophischen (die Liste ist nicht vollständig) – Äußerungen und Äußerungsmöglichkeiten, die mediale Kontrolle beschreiben, vorschreiben oder umsetzen. Die Kommunikation der Zensoren über den Text, der zensiert werden soll oder auch nicht; die Darstellung von Urheberschaft in der öffentlichen Debatte um das Leistungsschutzrecht; die Definition von Kontrollinstanzen in den Paragraphen des Zugangserschwerungsgesetzes sind Beispiele. Wiederkehrende Muster in solchen Beispielen offenzulegen ist das Ziel der Analyse: indem „in dem, was gesagt worden ist, kein[] Rest und kein [] Überschuß, sondern nur das Faktum seines historischen Erscheinens“ beschrieben wird, als „Ereignisse und funktionale Abschnitte, die ein sich allmählich aufbauendes System bilden“ (Foucault 1963/1973: 15).
In der Tradition der Diskursanalyse zeichnet sich dieser Ansatz durch die Annahme einer Positivität für die Diskurse medialer Kontrolle aus. Als negativ operierende Funktionen der Exklusion und Verknappung je anderer Diskurse wurden vergleichbare Phänomene traditionell als „censure“ im weiteren Sinne beschrieben (Foucault 1971, Bourdieu 1982, 1984). So ist untersucht worden, welche Subjektpositionen im medizinischen Diskurs zu verschiedenen Zeiten Rederecht beanspruchen konnten, welche Gegenstände wann vor dem Hintergrund welcher wissenschaftlicher Disziplin beobachtet wurden, welche Begriffe die Zugehörigkeit einer Äußerung zum politischen Diskurs legitimierten, und welche Strategien die Grenze des ökonomischen Diskurses immer wieder präzisierten. Das Interesse für die historische Wandelbarkeit aller dieser diskursiven Verfaßtheiten ist für die Analyse medialer Kontrolle ebenso zentral. Diese Beschreibungen sind jedoch zu ergänzen um Perspektiven auf solche Subjektpositionen, Begriffe, Strategien und Gegenstände, deren Konstruktion erst durch den gemeinsamen Bezug zu einem ebenso historisch kontingenten Feld der Kontrolle verständlich wird. Mediale Kontrolle, so die These, ist eigenständig institutionalisiert und diskursiviert. Wenn dies wahr ist, müssen Äußerungen medialer Kontrolle an einander ohne diskursive Brüche anschlußfähig sein, auch und gerade wenn sie dabei über die Grenzen anderer Diskurse hinausreichen; und Muster von Äußerungsmöglichkeiten müssen sich über die Differenzen anderer Diskurse hinweg ähneln, weil sie von den gleichen Instanzen und Konventionen der Kontrolle ermöglicht werden, die zu den Einrichtungen der anderen Diskurse hinzukommen.
Was damit gemeint ist, läßt sich durch einen kurzen Blick auf eines der berühmtesten Paradigmen medialer Kontrolle veranschaulichen: Galileo Galilei vor dem Kirchengericht (ausführlich in Packard 2011). Die Erzählung von Galileo, der gegen das Dogma der katholischen Kirche die Bewegung der Erde um die Sonne behauptet, dafür verurteilt wird, seine Behauptung öffentlich zurücknimmt, aber hörbar an jenem „Und sie bewegt sich doch!“ festhält, stammt in der heute verbreiteten Form aus dem 19. Jahrhundert. Sie ist drei Jahrhunderte jünger als die Prozesse vor dem Heiligen Officium und gibt entsprechend junge Vorstellungen von der kulturellen Position der Naturwissenschaften wieder. In dieser moderneren Darstellung erscheint Galileo als Teilnehmer an einer disziplinären Kommunikation um wissenschaftliche Wahrheit, deren universaler Freiheitsanspruch durch außenstehende Vertreter kirchlicher Macht eingeschränkt wird. In den Prozeßakten entsteht ein anderes Bild, das dazu nicht in einem Widerspruch, sondern vielmehr unter einer völlig anderen Perspektive steht. Zu keinem Zeitpunkt berufen sich Galileos Richter darauf, die Verbreitung des kopernikanischen Weltbilds wäre generell unzulässig. Galileo steht zweimal vor Gericht; die zweite Verurteilung 1632 beruft sich darauf, ihm persönlich sei im Zuge des ersten Prozesses 1615 verboten worden, die Bewegung der Erde um die Sonne zu lehren. Der Streitgegenstand im ersten Prozeß war ein Brief Galileos an seinen Schüler Benedetto Castelli, in dem er auf dessen Bitte hin Argumentationshilfen für den Streit um den Kopernikanismus am Hofe liefert. Das tut Galileo ausführlich in zwei Teilen: Einer detaillierten Aufbereitung biblischer Aussagen zur Bewegung der Himmelskörper, denen er Widersprüche nachweist; und einer ebenso umfangreichen Darstellung von aktuellen Meßergebnissen und ihrer mathematischen Modellierung. Aber die Anklage vor Kardinal Bellarmin bezog sich weder auf die eine noch die andere Hälfte der Abhandlung, sondern auf wenige überleitende Zeilen in der Mitte des Briefs. Hier erklärte Galileo seine Überzeugung, wonach
es vernünftig wäre, niemandem zu gestatten, Passagen der [Heiligen] Schrift darauf zu verpflichten, die Wahrheit physikalischer Schlußfolgerungen zu behaupten (vgl. Finocchiaro 1989: 51).
Dieser vorsichtige Vorschlag behandelt nicht unmittelbar eine astronomische Fragestellung. Vielmehr bringt er eine mediale Kontrolle ins Spiel: Es soll anderen Interpreten der Bibel die Erlaubnis entzogen werden, den biblischen Text auf solche Fragestellungen zu beziehen. Hier schließt der Diskurs medialer Kontrolle seitens der Kirchengerichte an: Der unter anderem von seinem Konkurrenten Caccini vorgebrachte Vorwurf (ebd. 137), Galileo interpretiere die Bibel in unzulässiger Weise, konkurriert mit dem Vorwurf der kirchlichen Gutachter im Verfahren, er schränke vielmehr die Interpretation der Bibel durch andere in unzulässiger Weise ein; diese nämlich sei „in jedem Sinne wahr“ (ebd. 136).
Man kann diesen Streit zu Recht im Sinne eines Bruchs lesen, in dem die Geltungsbereiche eines theologischen und naturwissenschaftlichen Diskurses für die Neuzeit gegeneinander abgegrenzt werden. Geführt aber wird dieser Streit in einem dritten Diskurs, jenem der medialen Kontrolle, die ihre eigenen Begriffe und Instanzen einsetzt. Ihr Diskurs ereilt Galileos Brief nicht als sachfremder Eingriff von außen, sondern wird in diesem Brief bereits geführt und schließt mit den Anklageschriften und der Päpstlichen Verwarnung durch Bellarmin, mit der der Prozeß endet, direkt an. Die unterschiedlichen Vorwürfe Caccinis und der Gutachter des Heiligen Officiums ebenso wie die rivalisierenden Darstellungen des 17. und des 19. Jahrhunderts lassen sich als Tauziehen zwischen den beiden Aspekten der unmittelbaren und mittelbaren medialen Kontrolle fassen: Der Content einer Beschreibung astronomischer Tatsachen ist in einem Vexierbild mit jener Message verschränkt, die verschiedene Interpretationszugänge zur Bibel verhandelt – eine genuin mediale Frage also.
Damit werden zugleich einige weitere typische Eigenschaften des (jedenfalls neuzeitlichen) Diskurses medialer Kontrolle deutlich: Indem er sich zugleich auf die kontrollierten Diskurse bezieht, thematisiert er die Beobachtung und Koregulierung moderner Differenzierungen, wie hier jener zwischen voneinander abgesetzten Bereichen der Theologie und der Naturwissenschaft. Er bildet mithin durch die Beschreibung und Verteidigung oder Verurteilung bestimmter Arten des Mediengebrauchs eine sekundäre Medienwissenschaft, und durch die Diskussion um die legitimen Verfahren der Diskussion um dritte Gegenstände eine tertiäre Wissenschaft der behandelten Aussagebereiche. Und er stellt mit der Frage nach der eigenen Angemessenheit regelmäßig die Legitimationsfrage: Darf Galileo darüber entscheiden, wer darüber entscheiden darf, worüber die Aussagen der Bibel entscheiden können?
Im spezifischeren medialen Kontrolldiskurs der Moderne ist jedenfalls in libertären Demokratien mit dieser letzten Frage die Grundlage für den Kampfbegriff der Zensur in allen Zusammenhängen medialer Kontrolle gestiftet. Mediale Kontrolle als „Zensur und andere Formen medialer Kontrolle“ zu beschreiben, reicht damit fast an eine Definition heran. Denn zwar wird Zensur immer wieder eng definiert, so daß sie auf die meisten Formen der medialen Kontrolle etwa im Urheberrecht, im Schutz der Privatsphäre, ja selbst im Jugendmedienschutz im strengen Sinne kaum angewendet werden kann. Zugleich aber wird überall und jederzeit sofort von Zensur gesprochen, wenn die fragliche Legitimation einer medialen Kontrollinstanz zur Debatte steht: ‚Ihr zensiert unsere Remixes‘ – ‚muß ich meine privaten Emails jetzt zensieren‘ – ‚die Bundesprüfstelle für jugendgefährende Medien zensiert Computerspiele!‘ Wie der Zensurforscher Frederick Schauer beschrieben hat (1998), verfügt der Begriff der Zensur damit nicht mehr über eine ontologische Präzision, dafür aber über eine klare pragmatische Bedeutung: Er wird strategisch eingesetzt, um die Legitimität von medialer Kontrolle in Frage zu stellen, indem die Wahl des richtigen Zensors thematisiert wird. Die Unsicherheit, ob der einzelne Zensor sichtbar ist, wie im Kirchengericht, das Galileo verurteilt, oder unsichtbar wird, wie im allgemeinen Appell an die Wahrheit, mit der Galileo die Deutung der Bibel regulieren will, materialisiert die Konkurrenz zwischen Content und Message in der für mediale Kontrolle charakteristischen Weise. Deren Indifferenz eröffnet ein Feld möglicher Redifferenzierungen, nach denen sich jederzeit zu fragen lohnt.
Wenn es also einen Diskurs medialer Kontrolle gibt, muß er als eigenständige Positivität gedacht werden, nicht als negative Operation im Dienst anderer Diskurse. Seine Beschreibung muß jederzeit die Kontroverse, die mediale Kontrolle unausweichlich umgibt, nicht nur beschreiben, sondern in der Indifferenz begründen können, die der Diskurs konstruiert, um parteiische Redifferenzierungen zu erlauben. Als Beschreibung und Beurteilung anderer Diskurse bietet er eine sekundäre Medienwissenschaft und eine tertiäre Wissenschaft der behandelten Aussagebereiche. Über die Legitimationsfrage, die zu jeder Zeit gestellt werden kann, ist er in libertären Demokratien auf einen Diskurs der Zensur bezogen. In dieser Konstellation bereitet er darüber hinaus zwei Fragen vor: Jene nach dem Draußen und jene nach dem Überall.
2. Exteriorität und Ubiquität: Zwei Fragen an mediale Kontrolle
Schauers Absage an eine Ontologie der Zensur richtet die Aufmerksamkeit auf jene Verfahren, mit denen Zensur ebenso wie weitere Formen medialer Kontrolle in ihrem eigenständigen Diskurs konstruiert werden. Während Zensur dann nicht mehr grundsätzlich vermeidbar scheint, eine unkontrollierte Form der Kommunikation also nicht mehr vorstellbar ist, weil kommunikative Strukturen stets Machtstrukturen ermöglichen, läßt sich immerhin noch beobachten, wann und wo eine Thematisierung der Macht, die sie ermöglichen, stattfindet; wann also eine „language of censorship“, ein Diskurs medialer Kontrolle, geäußert wird. (1998: 163) Für Schauer ist dies dann der Fall, wenn auch zunächst nur implizit wirksame Formen der kommunikativen Regulierung an bestimmte Instanzen oder Subjekte gebunden werden.
In Schauers eigenem Beispiel besteht darin der Unterschied zwischen einem Kurator, der legitimerweise entscheidet, was in seinem Museum zu sehen ist, und einem illegitimen Eingriff durch einen hypothetischen Minister. Greift dieser mit Polizeigewalt ein und läßt etwa bestimmte Kunstwerke von den Wänden entfernen, ist von Zensur die Rede. Der Kurator dagegen übt seine Gewalt über die Ausstellung mit dem Anspruch eines Akteurs aus, der die ihm genuin eigene Kommunikation selbstverständlich gestaltet (ebd. 150f.).
Aber Schauers Beispiel läßt sich als Gedankenexperiment fast beliebig fortsetzen. Der Minister mag sich sehr wohl auf eine bestimmte Kompetenz zur Entscheidung ästhetischer Fragen, auf einen Bildungsauftrag berufen; er mag dieses Vorrecht sogar gegen die Einmischung anderer Ressorts verteidigen, die etwa ökonomische oder sicherheitspolitische Aspekte ins Feld führen, die er als sachfremd abweist. Umgekehrt kann ein Künstler, dessen Werke nicht gezeigt werden, dem Kurator mangelnde Kompetenz vorwerfen; aus seiner Sicht greift das Museum in einen Bereich ein, in dem Künstler und Publikum miteinander kommunizieren könnten, wenn man sie nur ließe. Spätestens mit den neuen Konventionen des Remix (vgl. Lessig 2008) kann aber auch der Künstler für Kommunikationen innerhalb seines Publikums wie ein äußerlicher Störer erscheinen, wenn er bestimmte Derivate und Rekombinationen seiner Kunstwerke verhindern läßt – oder es jedenfalls versucht. Bereits der Begriff der „Privatkopie“ verweist auf den Schutz eines Handlungsraums, der als abgeschlossen, eben privat, gegenüber den ökonomischen und proprietären Ansprüchen von Produzenten zu behaupten ist. Andererseits aber ist jede Handlungsweise von Ministern, die als Schirmherren zu Vernissagen eingeladen werden, Kuratoren, um deren Gunst sich Künstler offen bewerben, und Künstlern, deren Urheberrecht von ihrem Publikum hochgehalten wird, unauffällig, solange die Frage der Legitimation nicht gestellt wird. Diese Frage beruht auf der Definition einer Exteriorität der kontrollierenden Instanz gegenüber einer kontrollierten Kommunikation, die als logisch vorgängig vorgestellt wird: Eigentlich gehört diese Kommunikation den Akteuren erster Ordnung, stattdessen übernehmen nun Äußere die Kontrolle.
Explizit thematisiert, das heißt: im Diskurs manifest wird Kontrolle also dann, wenn Subjektpositionen über ein Draußen definiert werden. Besonders deutlich wird das, wenn die kontrollierende Instanz diese Rolle sogar ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt und dann selbst in den expliziten Diskurs medialer Kontrolle einsteigt, diese aber gutheißt: Der Zensor, der gerade seine Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, die Loskoppelung von dem sozialen und kommunikativen Gefüge, über das er Macht ausübt, als Legitimation seiner Arbeit hochhält. Denn beide Legitimationen sind möglich: Solange die kontrollierende Instanz sich als selbstverständlichen Teil des Systems versteht, schließt dieses – und diskursive Kontrolle erscheint ausschließlich als negative Operation im jeweils heautonomen Diskurs. Dies ist etwa der Fall, wenn Mediziner medizinische Forschungsarbeit prüfen. Ganz anders, wenn der Gesetzgeber Kinderpornographie verfolgt: Eine zu große Ähnlichkeit medialer Gewohnheiten zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten beschädigt dann dem Selbstverständnis nach die Legitimation der Kontrolle.[4]An ihre Stelle tritt eine externe Kontrolle, und mit ihr ein eigenständiger, positiver Diskurs, der die Kontrolle gerade nicht in den Begriffen des kontrollierten Diskurses faßt. In jedem Streit jedenfalls um positive oder negative Kompetenz der Zensoren und damit um die Grenzziehung, die die Akteure der kontrollierten Kommunikation definiert, werden die Kontrolleure als eigenständige Instanzen sichtbar, so daß ihre Legitimation strittig werden kann.
Manifeste Kontrolle kann also jederzeit die Frage nach dem Draußen beantworten, in dem die Subjekte des kontrollierenden Diskurses außerhalb des kontrollierten Diskurses stehen. Invisibilisiert wird dagegen die Konstruktion der Grenze zwischen beiden und die minimalen Gemeinsamkeiten, die sie als Teile kontinuierlicher Kommunikationsvorgänge ermöglichen. Schauer hat seine Kritik an der Ontologie der Zensur zwar als Absage an einen stabilen Gegenstandsbegriff anderer rechtswissenschaftlicher Auffassungen positioniert, plädiert damit aber letztlich für eine Betrachtungsweise, die auch noch die impliziten Formen von Zensur einer juridisch faßbaren Frage nach der Legitimation von Zensoren unterwirft, indem diese visibilisierbar bleiben. So faßt er Mitte der 1990er das Problem des ‚Silencing‘, das insbesondere nach dem Ende der explizit zensierenden Sowjetstaaten als aktuelleres und drängenderes Problem einer Zensur in libertären Demokratien Ende des vorigen Jahrhunderts erschien. Damit entgeht er dem paranoischen Abgrund eines nicht mehr an Subjekte attribuierbaren, ubiquitären Kontrollbedürfnisses, wie es denkbar wird, wenn jede noch so implizite Regulierung von Kommunikation als potentielle Machtstruktur – und Machtausübung nicht mehr als überprüfbare Handlung bestimmter Akteure begriffen wird. Im Kontext desselben Forschungsprojekts zu Censorship and Silencing, das die American Academy of Arts and Sciences und das Getty Research Institute for the History of Art and the Humanities gemeinsam mit der University of California 1993-1995 unternahm, hat Judith Butler einen viel weitreichenderen Entwurf des Impliziten in der Zensur und damit auch der Allgegenwart des Silencing vorgestellt.
Aus Butlers Sicht (1998) ist die Vorgängigkeit einer jeweils kontrollierten Kommunikation sowie handelnder Subjekte, die dem Eingriff von Zensoren in einen kontrollierten Diskurs vorausgehen sollten, fraglich. Kommunikation, ja Sprachgebrauch im weitesten Sinne unterliegt aus dieser Sicht stets bereits Machtstrukturen, und Subjektivierung findet nur unter ihren Bedingungen und durch sie statt. Implizite Zensur ist dann nicht mehr Schwundstufe einer expliziten Kontrolle, die dennoch in schwächerer Weise eine gewisse Gewalt über die Möglichkeitsbedingungen medialer Produktion ausüben kann, sondern vielmehr die potentiell stärkere, weil mit den Möglichkeitsbedingungen von Äußerungen überhaupt verflochtene Kraft des Ausschlusses, oder wie Butler mit Jacques Lacan sagt: der Verwerfung, foreclusion, von Inhalten. In ihrem Beispiel führt die zeitweilige „don’t ask, don’t tell“-Politik der amerikanischen Streitkräfte nicht zu einer Unterdrückung, sondern zu einer Proliferation der Rede von der Homosexualität, indem jede Äußerung, jede Körperbewegung unter den paranoischen Verdacht einer potentiell angespielten, explizit aber nicht mehr äußerbaren homosexuellen Absicht gerät. Unterdrückt und effektiv verworfen wird allein die Behauptung eigener Homosexualität im Zuge der eigenen Subjektkonstitution:
The term homosexual thus comes to describe a class of persons who are to remain prohibited from defining themselves; the term is to be attributed always from elsewhere. (251)
Hier ist nun das Gegenteil der Exteriorität beschrieben, die wir im Anschluß an Schauer als Signum eines bestimmten Diskurses medialer Kontrolle annehmen können, der nach der Position von Subjekten fragt und einige außerhalb einer kontrollierten Kommunikation stellt. Diesmal gibt es kein Außerhalb – weil alle legitimen Subjektpositionen ohnehin bereits außerhalb des kontrollierten, verworfenen Diskurses stehen. Anstelle der Legitimation der Kontrollinstanz ist die Legitimation des Gegenstands der Kontrolle insgesamt fraglich geworden: Es geht nicht mehr etwa um die Sphäre der Kunst, deren Regulierung ästhetisches Wissen, oder die Sphäre der Medizin, deren Ordnung medizinische Fachkompetenz annimmt. Stattdessen ist das vorgestellte Objekt der Kontrolle zwar hochgradig codiert und konventionell – könnte nicht dieses Wort, könnte nicht jene Geste ein verstecktes Signal unter Homosexuellen sein? –, aber die Regulierung dient nicht dieser Konvention, sondern verbietet sie. Die Exteriorität ist in dem so verfaßten Diskurs allgemein; er selbst unterliegt damit freilich einer allgegenwärtigen Kontrolle. Deren Kehrseite, das Verbotene, läßt einen positiven Befund nicht zu; das in der Kontrolle thematische Subjekt, hier das des Homosexuellen, wird invisibilisiert.
Eine solche latente Kontrolle kann jederzeit die Frage nach der Regel beantworten, die überall gelten soll. Zum Verschwinden gebracht wird dagegen die Differenz zwischen Kontrolle und Kontrolliertem; der denkbare Verstoß gegen die Regel wird nur noch negativ als deren falsche oder verweigerte Erfüllung entworfen, vor der der kontrollierende Diskurs immer weiter und weiter zurückweicht. Es ist bezeichnend, daß der Begriff der foreclusion, auf den sich Butler dabei bezieht, in der französischen Psychoanalyse Jacques Lacans aus einer Überbietungsgeste in der Interpretation der Ausdrucksweise von Sigmunds Freud, insbesondere in der Arbeit über den „Rattenmann“ hervorgeht (vgl. Laplanche/Pontalis 1967/1972: 609). Wo Freud nämlich ‚Verwerfung‘ als Synonym für die Verdrängung und die Zensur des psychischen Apparats überhaupt verwendet, sieht Lacan eine Negation höherer Ordnung: Im Gegensatz zu den zensierten Inhalten, die einer Verdrängung anheimfallen, aber in der Sprache des Unbewußten stetig wiederkehren, gibt es demnach noch verworfene Inhalte, die gar nicht erst verneint werden, weil sie keine Sprache ermöglichen und gerade in der Differenz zwischen Bewußtsein und Unbewußtem nicht einer Seite zugeschlagen werden, sondern völlig verlorengehen.
Die Frage danach, was überall steht, weil in keiner Sprache vorstellbar ist, daß etwas anderes dastehen könnte, gilt also der umfassenden Kontrolle, die in dem bloßen Funktionieren von Kommunikation überhaupt aufzugehen droht. Hier wird die Rede des Elternteils, das an seinem Kind einen grammatischen Fehler, ein schmutziges Wort und die Offenlegung privater Familiengeheimnisse gegenüber Dritten gleichermaßen korrigiert, eine homogene Autorität, und geht schließlich in den allgemeinen Regeln der Grammatik, des Anstands und der Privatsphäre auf. Diese Elemente sind ideologisch, insofern ihre Konstruktion in der jeweils kulturell verfaßten Form naturalisiert werden; die Naturalisierung ihrer Formen in Frage zu stellen, heißt Kritik an spezifischer Kontrolle zu ermöglichen um den Preis einer Kapitulation vor der Unausweichlichkeit der allgemeinen Form von Kontrolle selbst.
Wer steht draußen? Was steht überall? Die beiden Fragen markieren die beiden Ansichten eines Kippbilds, das Kontrolle in unterschiedlicher Weise thematisierbar macht. Im Modus der manifesten Kontrolle macht der Diskurs medialer Kontrolle Kontrollinstanzen sichtbar und naturalisiert die angenommene vorgängige, unkontrollierte Kommunikation, in die sie nun in logischer Nachgängigkeit eingreifen. Im Modus der latenten Kontrolle macht der Diskurs die jeweilige Regel sichtbar, indem er sie selbst zugleich naturalisiert, weil sie auch jeder noch so vorgängigen Kommunikation eingeschrieben sei. Der eine Modus setzt die bekannte Ideologie des manifesten und unhintergehbaren individuellen Subjekts fort: Er hat hier eingegriffen, sie hat hier entschieden, und Freiheit besteht darin, bessere Zensoren als diese auszusuchen. Der andere Modus präsentiert vielleicht eine jüngere Ideologie, die Zeichen an Zeichen anschließen läßt, nicht nur ohne Subjekten, sondern überhaupt ohne Interpretanten eine funktionale Rolle zuzuschreiben: Diese Geste, dieses Wort verrät gegen den Willen des Handelnden etwas, das auch nach dem Willen des Kontrolleurs nicht hätte verraten werden sollen, aber als bloßes Zeichen wirkt es dennoch und unerbittlich. Die Unterscheidung zwischen beiden Modi bietet damit in vielen Fällen eine Orientierung ebenso wie einen Ansatzpunkt zur Kritik, die offenlegt, wie dieselbe Situation anders gefaßt werden könnte.
Die Sprache des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in Kommunikationsnetzen (ZugErschwG), an dem sich 2010 die öffentliche Debatte um mediale Kontrolle in neuesten Medien in Deutschland endgültig etabliert hat, stellt die Sprache der Exteriorität in den Vordergrund. So heißt es bereits zu Beginn:
§ 1.1 (1) Das Bundeskriminalamt führt eine Liste über vollqualifizierte Domainnamen, Internetprotokoll-Adressen und Zieladressen von Telemedienangeboten, die Kinderpornographie nach § 184b des Strafgesetzbuchs enthalten oder deren Zweck darin besteht, auf derartige Telemedienangebote zu verweisen (Sperrliste).
Die Instanz, die Kontrolle ausübt, wird klar benannt; insofern sie kommuniziert, wird schon die Weise der Kommunikation anders gefaßt als diejenige des kontrollierten Diskurses: Hier geht es um eine abstrakte Form (Sperrliste), dort um eine technische Beschreibung (IP-Adressen, Zieladressen, Telemedien). Invisibilisiert wird angesichts der sichtbaren Kompetenzträger die inhaltliche Kompetenz, über den Code zu entscheiden – daß Kinderpornographie eindeutig festgestellt werden kann, gilt als durch ubiquitäre Gesetzmäßigkeiten garantiert. Da die Sperrliste nicht offen zugänglich gehalten wird, ist die Möglichkeit einer Korrektur eventueller falscher Entscheidungen über die Betrachtung der Medienangebote von vornherein ausgeschlossen; die in der Bundestagsdebatte wiederholt betonte Möglichkeit, stattdessen auf dem Wege des Verwaltungsrechts falsche Sperrungen aufheben zu lassen, adressiert solche Korrekturen an die kompetenten Instanzen, wiederum außerhalb der in Frage stehenden Webangebote. Werden diese Instanzen erreicht, gilt das Problem als gelöst. Denn die Unterscheidung zwischen Kontrolleuren und Kontrollierten ist scharf:
§ 1.3
Sicherung der Sperrliste
Diensteanbieter nach § 2 haben die Sperrliste durch geeignete Maßnahmen gegen Kenntnisnahme durch Dritte, die an der Umsetzung der Sperrung nicht beteiligt sind, zu sichern
Das Verfahren dieser Kontrolle wäre unverständlich, wenn die Dritten, deren Kommunikation kontrolliert wird, selbst an ihrer Umsetzung beteiligt wären. Gerade dies ist, wie wir gleich noch genauer sehen werden, das Gegenteil zur Situation der ubiquitären Kontrolle, in denen Subjekte, die die Kontrolle nicht verwirklichen, als mediale Akteure gar nicht vorstellbar sind. Charakteristisch für den Diskurs manifester Kontrolle ist indes auch die beliebige Verschiebbarkeit dieser Grenze zwischen Kontrollinstanzen und Kontrollierten, die die binäre Konstellation immer wieder wiederholbar macht. So setzt der Gesetzestext kurz darauf mit der Konstitution weiterer Instanzen fort:
§ 1.2 (1) Diensteanbieter nach § 8 des Telemediengesetzes, die den Zugang zur Nutzung von Informationen über ein Kommunikationsnetz für mindestens 10 000 Teilnehmer oder sonstige Nutzungsberechtigte ermöglichen, haben geeignete und zumutbare technische Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu Telemedienangeboten, die in der Sperrliste aufgeführt sind, zu erschweren. Dies gilt nicht, wenn Diensteanbieter ausschließlich solche Zugänge anbieten, bei denen Maßnahmen nach Satz 1 bereits von anderen Anbietern durchgeführt werden oder wenn Diensteanbieter, die Internetzugänge nicht für die Öffentlichkeit anbieten, selbst vergleichbar wirksame Sperrmaßnahmen einsetzen.
Das Bundeskriminalamt besetzt zunächst die äußere Position einer Kontrollinstanz. Sie gibt damit jedoch der nächsten Position, die sie kontrolliert, eigene Kontrollmaßnahmen auf. Voraussetzung für diese zweite Position ist deren Abgrenzung gegen eine hinreichend unterschiedene dritte Gruppe, deren Kommunikation wiederum Objekt sein kann: Teilnehmer, die mindestens in großer Zahl vorliegen müssen, weil sie als massenmediales Pendant zu den als Sendern verantwortlichen Diensteanbietern gedacht werden. Damit wird die egalitäre Auffassung von digitaler Kommunikation als many-to-many-Verfahren zurückgestellt: Nur so kann der Diensteanbieter selbst für die Inhalte verantwortlich werden, die er zwar nicht erstellt hat, aber aus diesem Grund zu sperren hat. Die Akteure des kontrollierten Diskurses sind aber auch qualitativ insofern von den Kontrolleuren verschieden, als sie eben nicht – dies die dritte Möglichkeit – ihrerseits „selbst vergleichbar wirksame“ Kontrolle ausüben. Tun sie es doch, verschiebt sich die Grenze zum kontrollierten Objekt des Verfahrens abermals.
Der vorliegende Diskurs stellt also immer wieder die Frage: Wer ist draußen? Und er weiß sie mehrfach zu beantworten. Kritik an diesen Entwürfen stellt die komplementäre Frage: Was steht überall? Sie bedient sich also im Rahmen desselben Diskurses der Möglichkeiten, Invisibilisierungen wie die Unzugänglichkeit und Unüberprüfbarkeit der Sperrliste ebenso sichtbar zu machen wie die fragliche Voraussetzung einer vorgängigen Kommunikation, in der bestimmte Codegesetze naturalisierte Gegenstände wiedererkennbar machen sollen. In diesem Fall betrifft dies die selbstverständliche Einschränkung auf jene Inhalte, die als Kinderpornographie selbstverständlich zu unterdrücken, ja geradezu im Wortsinn widernatürlich – und also von anderen Inhalten leicht zu trennen seien. So kritisiert Annette Marberth-Kubicki in ihrer rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Entwurf:
Hat sich das Instrument der Internetsperre erst einmal etabliert, wird es nicht nur zum Kampf gegen Kinderpornografie eingesetzt werden. Die Nutzung wird dann auch zur Verhinderung anderer unzulässiger oder nur unerwünschter Inhalte des Internets ausgedehnt werden. Schon jetzt werden Forderungen nach der Blockade von Glückspielen, Sportwetten, Killerspielen, Urheberrechtsverletzungen, politischer Propaganda etc. erhoben.
Das Zeitalter der Internet-Zensur hat endgültig begonnen. (Marberth-Kubicki 2009)
Entscheidend ist, daß die mangelnde Trennung von Kinderpornographie und anderen Inhalten, die Objekte der Sperren werden könnten, nicht etwa auf einfache Verwechslungen beschränkt ist. So könnte etwa eine Seite, die über Kindesmißbrauch aufklärt, mit einem kinderpornographischen Angebot verwechselt werden; auch diese Sorge wurde in der Kritik vielfach geäußert. Hier aber wird ein Glückspielangebot nicht versehentlich wie Kinderpornographie behandelt. Vielmehr ist die Ausweitung der Kategorie, die zunächst selbstverständlich auf Kinderpornographie eingeschränkt wurde, gerade wegen der Selbstverständlichkeit von deren Verurteilung möglich. Erst wenn deutlich gemacht wird, daß die allgemeine Regel, was Kinderpornographie sei und daß sie zu verurteilen ist, selbst kodifiziert werden muß, so überzeugend der gesellschaftliche Konsens darüber auch ist, wird zugleich thematisierbar, daß andere, weitere Regeln bereitstehen, die an denselben funktionalen Ort rücken können: Denn dessen Besonderheit mußte der Diskurs der manifesten Kontrolle nicht definieren.
Der Ideologie von den frei handelnden Subjekten, die außerhalb der kontrollierten Kommunikation stehen können, entspricht allerdings am anderen Pol eine vielleicht jüngere, aber nicht weniger ideologische Haltung. Sie erklärt Zeichen selbst zu Akteuren und treibt das „es spricht“ an der Stelle des „ich spreche“, das für Lacan noch im Kontext einer gezielten Subversion des Subjekts stand, auf eine Spitze, in der Interpretanten für das Funktionieren der Zeichen unerheblich scheinen. Dieser Modus des Diskurses medialer Kontrolle läßt Rede zu, die keinen Urheber und keine Interpreten hat außer der maschinellen Umsetzung statistischer Gegebenheiten in der unsichtbaren Grundierung der Sprache selbst. Die Selbstzensur der automatischen Vervollständigung von Suchbegriffen bei Google kann dafür als Paradigma gelten:
Bittorrent ist der Name eines P2P-Protokolls, mit dem Daten bequem im Internet, aber abseits des Web getauscht und verbreitet werden können. Es wird unter anderem (aber keineswegs nur) für die illegale Weitergabe urheberrechtlich geschützter Materialien verwendet und dafür kritisiert. Wer sich über Google darüber informieren oder eine geeignete Software beziehen will, erlebt Überraschungen, obwohl er letztlich sehr wohl zum Ziel kommt. Die Eingabe von „bitt“ ergibt noch eine Reihe von sinnvollen Ergänzungen: Google[5] blendet als mögliche Suchanfragen unter anderem „bittersweet“, „bitter“, „bittersweet symphony“ und „bittersweet symphony lyrics“ ein. Wird das Wort „bittorrent“ ausgeschrieben, sind die Vorschläge ebenso sinnvoll: „bittorrent download“, „bittorrent sites“, „bittorrent search“ und „bittorrent for mac“. Dazwischen aber entsteht bei „bittorr“ eine peinliche Pause. Die bittersüßen Vorschläge sind verschwunden, werden aber auch nicht durch andere Angebote ersetzt. Daß Google sehr wohl weitere Angebote für diese Buchstabenfolge bereithält, wird aber klar, wenn das Wort ausgeschrieben ist. Wer es wirklich ernst meint und Bittorrent sucht, darf es auch finden. Auf halbem Wege zu diesem Wort aber verstummt Googles Automatik. Freilich nicht, weil ihr nichts einfiele und sie keine Ahnung hätte, was gesucht wird, sondern weil sie im Gegenteil erkannt hat, was gemeint wird – und genau dieser Begriff offenbar als Autovervollständigung gesperrt wurde (nicht aber als komplettes Suchwort).
Das durchaus harmlose Beispiel führt die Paranoia der Überinterpretation vor, wie sie für ubiquitäre Kontrolle typisch ist: Der Nutzer wird doch nicht Bittorrent meinen? Insofern er das noch zu Ende schreiben darf und dann auch bedient wird, funktioniert hier noch die Selbstzuschreibung auf seiner Seite. Aber die automatische Zeichenproduktion schweigt. Der Theorie nach ist die automatische Vervollständigung dieser Suchanfragen die Akteur gewordene Gestalt der Gesetze der Sprache schlechthin: Die Ergänzungen sollen häufig erfolgreich verwendete Wortkombinationen erraten, also nicht nur solche, die oft eingegeben wurden, sondern nach deren Eingabe ein Treffer ausgewählt und die Suche nicht fortgesetzt wurde. Die allgemeine Funktionsweise geht also gerade davon aus, daß keine individuellen Subjekte, sondern allein das Vorauswissen des bereits zusammengetragenen Archivs aktiv geworden ist. Tatsächlich sind diese und andere, etwa obszön oder kriminell konnotierte Suchbegriffe, mit denen sich lange aufschlußreich experimentieren läßt, offensichtlich in einem zweiten Schritt gezielt blockiert worden. In dem kurzen Moment der Pause entsteht jedoch eine Phantasie, wonach diese Buchstabenkombination im millionenfachen Gebrauch der Suchmaschine, der deren eigenes Verhalten wiederum steuert, nicht vorgekommen oder jedenfalls nicht regelmäßig zu „bittorrent“ ergänzt worden seien. Wäre dies tatsächlich das Ergebnis all der anderen Nutzerprofile, wäre also niemand sonst da, der jemals Bittorrent sucht, hätten wir es mit einer perfekten impliziten Zensur, mit einer erfolgreichen ubiquitärer Kontrolle zu tun, bei der die entfernten Inhalte eben nicht entfernt, sondern nie geäußert worden wären: Vollkommene Verwerfung.
Die täglich beobachtete Macht der wachsenden digitalen Archive, die auf immer besser vorhergesagte Suchanfragen immer gezieltere Angebote bereithalten, mag diese Phantasie selbsttätiger Zeichen durch eine Illusion unterstützen. Semiotisch ist sie freilich nicht haltbar: Zeichen ohne Interpretanten sind mit Peirce (vgl. 1867/1984) gesprochen Degenerationen, bloß abstrahierte Abbilder vollständiger Zeichen, die stets die Funktion einer Instanz besetzen müssen, die Zeichenkörper und Zeichenobjekt miteinander verbindet. Der Begriff des Interpretanten erlaubt es im Rahmen einer pragmatizistischen Zeichentheorie, die Funktion der Zeicheninterpretation unabhängig davon zu beschreiben, ob ein Mensch, eine Gemeinschaft oder ein automatischer Algorithmus den Bezug eines Zeichens auf seinen Gegenstand umsetzt; eine Konsequenz, die nicht zuletzt Peirce‘ Reaktion auf die Abstraktion des Denkens in Booles Laws of Thought und auf Babbages denkende Maschinen wiedergibt. Gerade damit wird aber unzweifelbar deutlich, daß dieselbe Funktion eben auch in maschinellen Vorgängen erfüllt werden muß: Es gibt keine Schlußfolgerung aus noch so vielen versammelten Daten, ja im strengen Sinne gibt es nicht einmal deren Versammlung, ohne die jeweilige Spezifik des Algorithmus, der sie umsetzt.
Ein letztes Beispiel soll zeigen, wie beide Fragen gemeinsam die Möglichkeitsbedingungen eines Verfahrens medialer Kontrolle abtasten können. Im April 2011 formulierte der Chaos Computer Club ein Modell der sogenannten „Kulturwertmark“ (2011) als Vorschlag für eine teilweise Novelle des Urheberrechts. Alle Inhaber eines Internetanschlusses, später vielleicht alle Steuerzahler, sollen demnach zum Erwerb eines Mindestbetrags an monatlichen Kulturwertmark verpflichtet werden, die als kryptographisch gesicherte Micropayment-Währung an Produzenten verteilt wird, die ihr Werk zur Verfügung stellen und dafür um Entlohnung bitten oder auch eine feste Summe fordern. Wird dabei eine bestimmte Summe aus den einzelnen Zahlungen für ein Werk erreicht, ist dieses automatisch gemeinfrei, was zusätzliche freiwillige Zahlungen jedoch nicht ausschließt. Wer mehr Kulturwertmark kaufen will, kann das tun, und wer sein Mindestbudget nicht ausgibt, für den wird es anteilig so an alle Produzenten ausgeschüttet, wie die gezielt ausgegebenen Kulturwertmark im selben Zeitraum verteilt wurden.
Wie alle entsprechenden Vorschläge und wie das traditionelle Urheber- und Verwertungsrecht, das ersetzt werden soll, impliziert dieses Modell Kontrollstrukturen. Es lohnt sich, diesen Entwurf wie alle Konzepte medialer Kontrolle auf beide Aspekte abzuklopfen: Erstens, wer steht draußen – welche Kontrollinfrastruktur wird geschaffen, und wen bemächtigt sie? Zweitens, was steht überall – welche Vorstellungen über den Gebrauch von Medien werden hier verallgemeinert?
Am nächstliegenden sind sicher die Antworten auf die Frage: wer steht draußen? Welche Kontrollinstanzen werden geschaffen, die außerhalb des kreativen Bereichs und jenseits der Konsumenten diese kontrollieren? Man könnte etwa wie folgt präzisieren:
- Wer steuert die Stiftung, die das verwalten soll? Das Papier sieht einen gewählten Vorstand vor, der sich aus Produzenten und Rezipienten rekrutiert. Wer wird sich zur Wahl stellen lassen, wer wird die Stimmen bündeln (Parteien?), wer wird erfolgreich sein?
- Welche Freiheiten und Schranken hat dieser Vorstand in seinen Entscheidungen?
- Welchen politischen Organen wird wiederum die Entscheidung darüber überlassen? Wer — Bund, Länder, Legislative, Exekutive — bildet die nächstäußere Stufe der Kontrolle?
- Welche Entscheidungen müssen auf niedrigem Niveau gefällt werden? Welche Macht also hat der einzelne Verwaltungsangestellte in dieser Stiftung?
- Wie werden in dem neuen Modell Verstöße verfolgt und geahndet?
Diese Fragen spricht das Vorschlagspapier großteils sehr offen an. Nur implizit behandelt es dagegen die Fragen der Ubiquität, die dennoch entscheidend sind. Denn der Vorschlag betrifft das Ganze einer Gesellschaft. Das Entwurfspapier redet regelmäßig von ‘allen’, von ‘Staat’ und ‘Nation’ und ‘jedem Steuerzahler’. Das Konzept läßt sich also nur im Kontext einer Vorstellung von einer ganzen Gesellschaft verstehen, die weiß, was sie als ihr typisches Mitglied versteht, und bereit ist, den Rest der Gesellschaft mit Blick auf diese Norm zu regulieren. Die Frage: was steht überall? Nähert sich damit einer Antwort. So könnte man zur weiteren Präzisierung fragen:
- Von welchem Einkommen gehen wir aus, wenn wir eine ‘angemessene’ monatliche Mindestsumme für den Erwerb von Kulturwertmark festlegen?
- In welchem Verhältnis wird diese Mindestsumme zum typischen Preis eines Artikels, eines Kurzfilms, einer Nachrichtensendung im Netz stehen: Kauft der typische Minimumrezipient einen typischen Kurzfilm am Tag? In der Woche? Im Monat? Oder zehn?
Denn die Antwort darauf kann man zwar einer Marktentwicklung überlassen, bei der Produzenten und Rezipienten die Preise festlegen, zu denen sie zu verkaufen und zu kaufen bereit sind. Dies entspricht der unsichtbaren Hand des statistischen Zeichenmarkts, als dessen ausführende Instanz sich Googles Suche präsentiert. (Vgl. Bry 2012.) Aber auch dann wird durch den Mindestumsatz pro Monat jedenfalls ein Orientierungswert geschaffen, ebenso wie durch den zuvor festgesetzten Schwellenwert, ab dem ein Werk abbezahlt ist und gemeinfrei wird:
Hier gibt es zwei grundlegende Möglichkeiten. Die erste ist eine generelle Festlegung etwa je nach Umfang des Werks, seiner Schöpfungshöhe und dem zur Erstellung nötigen Aufwand. Die zweite ist, den Künstler die Höhe selbst festlegen zu lassen. In der Praxis wird vermutlich ein kombiniertes System von Orientierungswerten und Maximalkappungsgrenzen zur Anwendung kommen, bei der die Stiftung Empfehlungen ausspricht, denen der Künstler dann folgen kann oder nicht. Wichtig ist hier, daß das Ziel der Schaffung einer digitalen Allmende nicht durch unrealistisch hohe Schwellwerte unterminiert wird. Hier hat die Stiftung steuernd einzuwirken. (Ebd.)
Ob als rigide Regel oder als Empfehlung: Hier wird universal festgelegt, was das Produkt nach Umfang, Schöpfungshöhe und Aufwand wert ist. Es wird damit wie schon im bisherigen Markt von neuem möglich sein, Romanseiten in Filmminuten umzurechnen; Stunden, die Harald Schmidt vor und hinter der Kamera arbeitet, werden mit Stunden kommensurabel, die Günter Grass vor der Schreibmaschine sitzt. Man kann im Modus der Exteriorität fragen, wer diese Schlüssel festsetzt. Im Modus der Ubiquität ist aber vor allem darauf hinzuweisen, daß ein solches Maß, das alle Kulturerzeugnisse einer Gesellschaft auf eine Norm umrechnet, im Modell vorausgesetzt wird. Dieses Maß wird allen Produzenten und Konsumenten angelegt; es steht überall zu Gebote. Die entsprechenden Passagen des Entwurfs lassen sich als Antwort auf die Frage nach der Ubiquität zum Sprechen bringen:
Es geht nicht darum, den Britney Spears dieser Welt ihre zukünftigen Millionengagen zu sichern. Es geht um den Erhalt einer breiten, bunten, schöpferischen Kulturlandschaft mit möglichst großer Vielfalt. Und es geht um den möglichst niederschwelligen, für alle erschwinglichen Zugang zu den Werken, die in dieser Landschaft erblühen. (Ebd.)
Nicht Britney Spears ist das Modell des Künstlers, sondern ein Mensch mittleren Einkommens. Das ist eine Entscheidung, und sie rekurriert vielleicht nicht zufällig auf eine Mitte, die Mitte der Gesellschaft, Mittelklasse und damit auch wiederkehrender Ausdruck der Normen bürgerlicher Ideologie ist. Eine solche Analyse ist auf keinen Fall als Vorwurf mißzuverstehen; wohl aber als Anspruch, die Annahmen über universale Gesetze in der so kontrollierten Gesellschaft explizit zu machen.
3. Aktueller Kontrolldiskurs und postdemokratische Subjektivierung: Bühne und Zuschauerraum
Wie sieht eine derart kontrollierte Gesellschaft aus? Diskursanalyse setzt voraus, daß Diskurse historisch sind und auch anders aussehen könnten. Was an der Herleitung dieser beiden Fragen einer allgemeinen Logik zu folgen schien, darf nicht als zeitloses Axiom, sondern muß als Ausdruck unserer Selbstverständlichkeiten gelten. An die beschriebene Oszillation zwischen Draußen und Überall sind also zwei weitere Fragen zu richten: Wie sehen andere Diskurse medialer Kontrolle aus? Und inwiefern ist das beschriebene Modell für seine Zeit, für unsere Zeit also, aus deren Beispielen ich es illustriert habe, spezifisch? Die Beantwortung der ersten Frage steht völlig aus; sie kann möglicherweise zukünftig im Fortschritt der Überlegungen zur medialen Kontrolle auf dieser Plattform und anderswo angenähert werden. Zur zweiten Frage will ich abschließend noch einige durchaus spekulative Vermutungen anstellen.
Die vereinfachte binäre Opposition von Exteriorität und Ubiquität ahmt das asymmetrische Modell von Öffentlichkeit nach, das die mediale Verfaßtheit der one-to-many-Kommunikationen geprägt hat. Einer steht draußen, wie auf einer Bühne; viele, eigentlich alle, sitzen im dunklen Zuschauerraum. Traditionelle Öffentlichkeit ist auf ein Publikum und damit auf ein solches Ungleichgewicht angewiesen: Eben deshalb ist noch völlig unklar, wie die Öffentlichkeit solcher Daten beschaffen ist, die zukünftig von jeder Person jederzeit allen offenliegen. Denn wenigstens die überlieferte Form der Öffentlichkeit ist nicht zuletzt eine Konstellation von Kontrollinstanz und kontrolliertem Inhalt. Wer nämlich auf der Bühne steht, ist in diesem alten Modell zugleich derjenige, der alle dort sichtbaren Inhalte präsentiert und damit alles zeigt, was vom Zuschauerraum aus gesehen werden kann.
Hier gerät das Modell in Spannung zu tradierten Begriffen der Macht, die in dieser Bühne ein Zentrum sehen, für das das Publikum Peripherie ist. Dabei legt das Moment des Draußen nahe, daß die Entscheidungsinstanzen auf der Bühne exzentrisch sind; das Bundeskriminalamt oder die Diensteanbieter anstelle der anonymen Nutzer, unter denen sich Kinderpornographen verstecken können. Solange Urteile der Entscheidungsinstanzen in öffentlichen Gerichtsverfahren gefällt werden, sprechen sie im Namen eines Ganzen; sobald die Rede im Namen des Ganzen aber den Automatismen von statistischen Algorithmen, privaten Diensteanbietern und geheimgehaltenen Sperrlisten überantwortet wird, geraten sie ins Dunkel des Zuschauerraums, aus dessen mehrheitlichem Gemurmel sie sich rechtfertigen. Für den Modus der Exteriorität kann jeder Akteur im kontrollierten Diskurs auf die Seite der Kontrolle wechseln, wenn die Grenze beider Diskurse neu gezogen wird: Der Kurator rückt dem Minister, der Künstler dem Kurator nach, so wie die Diensteanbieter dem Bundeskriminalamt folgen.
Was bleibt im kontrollierten Bereich übrig, wenn alle Subjektivität auf die Bühne gewechselt ist? Vielleicht ist es genau der Ort jener Ideologie, nach der die Zeichen selbst handeln – Mehrheitsmeinungen, denen keine individuellen Interpretanten mehr entsprechen. Die post-privacy-Bewegung der „Spackeria“ – die sich in einer katachrestischen Geste selbst auf einen Vorwurf hin so genannt hat – hat 2011 ironisch, aber nicht völlig unernst einen Forderungskatalog zusammengestellt. Während die Personae der Spackeria jedenfalls unter Internetpseudonym identifizierbar und großteils als sehr charakteristisch, individuell und idiosynkratrisch redende Subjekte öffentlich sind, ist der Forderungskatalog aus anonymem – nicht pseudonymem – Crowdsourcing entstanden. Der Katalog beginnt wie folgt:
Hier die Forderungen der Spackeria, according to the internet:
Hochoffizieller Forderungskatalog der geheimen transparenten Führungsclique der Spackeria:
0. Es gibt keine persönlichen oder personenbezogenen Daten
1. Daten entsprechen ihrer Natur – Akzeptanz dieser Gesetzmäßigkeit
2. Zwangsveröffentlichung gespeicherter Kommunikationsdaten (ganz oder garnicht) nach n Wochen
3. Datennutz vor Datenschutz
Pi. Wir meinen das ernst. (fasel 2011)
Bereits die doppelte Überschrift mit ihrer doppelten Zuschreibung der Forderungen lehnt jede Antwort darauf ab, wer draußen steht. Es gibt niemanden, der draußen stehen könnte; alle Subjekte sind durch völlige Transparenz durchsichtig und unsichtbar geworden. Statt einer Positionierung wird uns berichtet, was im Zuschauerraum mehrheitlich für die Position der Sprecher gehalten wird. Dazu gehört als erstes in dieser Regulierung von Daten eine Absage an den Personenbezug, der nicht nur Echo der Subjektkonzeption, sondern eine der wesentlichen Abgrenzungen eines kontrollierten Diskurses gegenüber seinen Kontrolleuren war. Die Naturalisierung dessen, was Daten ohne die besondere Souveränität persönlicher Akteure tun, folgt explizit: Es ist Natur, daß Daten diejenigen automatischen Handlungen vollbringen, die sie eben vollbringen; Akzeptanz, nicht Kritik, ist dem angemessen. Das kann Zwang ausmachen, der aber durch Universalität – „ganz oder garnicht“ – nicht nur gerechtfertigt, sondern ebenfalls täterlos wird. Daß das Ganze und sein Anspruch auf Totalität offensichtlich – Pi – nicht ernstgemeint wird und dabei ernstgemeint wird, rückt es schließlich vollständig in die ideologische Funktion eines falschen Bewußtseins, über dessen Falschheit der Ideologe in der Postmoderne sich nicht täuscht, sondern lacht (Žižek 1989: 23f.): ‚Wir wissen ja, daß es so nicht ist, aber … es ist dennoch so!‘
Jeff Jarvis‘ etwas ernsthaftere Bill of Rights in Cyberspace geht mit der Ersetzung des Rechtssubjekts durch die autonomen Daten noch offensiver um; in der Fassung vom Dezember 2010 heißt es dort:
All bits are created equal. (Jarvis 2010)
Demnach ist es vielleicht kein Zufall, daß die wesentlichen beiden politischen Subjektivierungsbewegungen in libertären Demokratien der jüngsten Vergangenheit, Occupy Wallstreet und Anonymous, ausdrücklich auf anonyme Subjektivierung setzen. Für die Occupy-Bewegung ist der Verzicht auf Anführer, die Identifikation mit der ungezählten Mehrheit des Volks, den 99%, und die dennoch eingeforderte mediale Präsenz Programm. Für Anonymous ist sie nicht nur Ziel, sondern Ausgangspunkt der eigenen Macht, und eine Drohgeste: „Because none of us are as cruel as all of us“ lautet einer ihrer Slogans. Jeder kann sich zum Teil von Anonymous erklären; wer in Anonymous‘ Namen zu handeln angibt, handelt in Anonymous‘ Namen.
Im Ausgang von der Anverwandlung des Lebens durch die Vielzahl der neuesten medialen Maschinen, die eine unüberschaubare Schar an verschiedenen Dispositiven gleichzeitig setzen, hat Giorgio Agamben eine solche Subjektivierung beschrieben:
Was die Dispositive, mit denen wir es im momentanen Stadium des Kapitalismus zu tun haben, ausmacht, ist jedoch weniger, daß sie die Produktion eines Subjekts bewirken. Sie zeichnen sich vielmehr durch Prozesse der – wie wir es nennen könnten – Desubjektivierung aus. Ein Moment der Desubjektivierung wohnt freilich jedem Subjektivierungsprozeß inne. [… W]as wir jedoch jetzt beobachten können, ist, daß Subjektivierungsprozesse und Desubjektivierungsprozesse wechselseitig indifferent werden und nicht mehr auf die Wiederzusammensetzung eines neuen Subjekts hinauslaufen, es sei den in verhüllter, gleichsam gespenstischer Form. (Agamaben 2006/2008: 36f.)
Agambens Referenz ist dabei insbesondere die Allgegenwart der Mobiltelephone (ebd. 29). Aber auch diese mehrfache Dispositivierung sollte nicht als einfache Konsequenz bestimmter Technologien, sondern als kulturelles Phänomen betrachtet werden, dessen Möglichkeitsbedingungen bis in jene technologische Vorzeit zurückreichen, in denen mediale Kontrolle in der Regulierung von Druckerpressen bestand. Aus der Perspektive einer Diskursanalyse medialer Kontrolle läßt sich die vielfach beschworene neue Form einer postdemokratischen Subjektivität oder Humanität (vgl. bes. Rancière 1995: 110 ff.) aus einer anderen Perspektive präzise fassen. Sie übernimmt die Rhetorik der Subjektivierung aus etablierten politischen Bewegungen und füllt sie allein mit der zur Naturgesetzmäßigkeit erklärten Anonymität ubiquitärer Zeichenprozesse. Das bei Galileo phantasierte apokryphe „Eppur si muove!“ dieser Bewegung kommt nicht mehr von der Bühne, sondern ist ein von der stummen Mehrheit getragener Vorschlag zur automatischen Vervollständigung unserer Suchanfrage. Daß es apokryph ist, hat System: Es kommt aus dem Dunkel des Zuschauerraums. Damit setzt diese Subjektivierung die mediale Kontrolle, aus der sie ihre Position bezieht, letztlich fort. Alternativen werden erst als Alternativen zu diesen Kontrolldiskursen denkbar.
ANMERKUNGEN
1. Dirk Baecker hat dies nicht nur für mediale Kontrolle ausführlich gezeigt, sondern auch eine Anwendung von Katjekten vorgeschlagen, mit der jede neue Distinktion präzise verfolgt werden kann (2012).↑
2. Genau die Frage nach ihrem Effekt scheint inzwischen für die Themati-sierungsstrategien zu Wikileaks die Diskussion einzelner Effekte ersetzt zu haben. In vergleichbaren Subjektivierungsprogrammen im Rahmen eines Diskurses medialer Kontrolle, namentlich bei der Occupy-Bewegung, ist dies in populärer Weise explizit und zum Aushängeschild der Aktion geworden, vgl. die beliebte Plattform What the heck has #Occupy done so far? (Farnach und Smith 2011).↑
3. Metapolitik ist hier im Sinne Rancières (1995: v.a. 75ff.) verstanden als ein Diskurs der Korrektur, durch den die aus einer parteiischen Repräsentation des Volks durch den Ausgleich der Parteilichkeit ein Richtiges in den Begriffen der gleichen falschen Repräsentation, als eine ›Wahrheit der Lüge‹, präsentiert wird.↑
4. Ohne den anderen offenen Fragen in diesem Fall nachgehen zu wollen, ließe sich etwa bei den Verfahren um den früheren Bundestagsabgeordneten Tauss durchaus reflektieren, ob sein Standpunkt, wonach er über den Vertrieb von Kinderpornographie recherchiert, statt selbst daran teilgenommen hat, in dem Kontrolldiskurs, gegen der er argumentierte, überhaupt als relevante Äußerung wahrgenommen werden konnte, weil Kompetenz über den Gegenstand hier gerade mit einer bestimmten persönlichen Unkenntnis verbunden wurde. Nur so war es in der Logik der Netzsperren möglich, daß der zusätzlicher Schutz vor dem Verbrechen der Kinderpornographie statt in deren intensiverer Verfolgung in deren Invisibilisierung für jene bestehen sollte, die sie nicht gezielt sichtbar machen wollten.↑
5. Mit meinen persönlichen Einstellungen, die erhebliche Datenmengen über meine früheren Suchen und Interessen nebst regionalen und anderen Kontextinformationen berücksichtigen dürften; die Ergebnisse stammen aus dem November 2011.↑