Kaufhaus-Punk auf youtube. Mediale Kontrolle zwischen Musiker und Fans am Beispiel von Jan Delay

von Fernand Hörner

 

Am 3. Dezember 2010 wurde endlich der Heilige Gral gefunden, zumindest laut der britischen Zeitung The Guardian. Wie kam es dazu? Der britische Premierminister David Cameron hatte ein paar Tage zuvor verkündet, er sei ein großer Fan der Band The Smiths, worauf Johnny Marr, ehemaliger Gitarrist der Band per Twitter verkündete: “David Cameron, stop saying that you like The Smiths, no you don’t. I forbid you to like it“. (Marr 2010)

Des Öfteren sind Bands nicht mit ihrem Publikum zufrieden und versuchen sich der ungewünschten Bewunderung zu erwehren. Der Guardian erinnert etwa an die Band Radiohead, die 2006 auf einem Konzert in New York feststellen musste, dass die Tochter von US-Präsident George W. Bush samt Bodyguards anwesend war (NME 2006). Radiohead hatten 2003 in den USA ihr Album Hail to the Thief veröffentlicht, eine offene Abrechnung mit dem gerade ernannten George W. Bush, dem sie unter anderem „Stimmenklau“ vorwarfen. Auf seiner Homepage reflektierte Thom Yorke, der Sänger, seine Ratlosigkeit, wie damit umzugehen sei. Sollte man sich geehrt fühlen, darüber lachen oder sie nach ihrer Eintrittskarte fragen? (Yorke 2006) Dass Johnny Marr per Twitter aktiv wurde und David Cameron auch als Follower von seiner Facebook-Seite gelöscht habe, sei dem Guardian zufolge angesichts der vorher herrschenden Rat- und Machtlosigkeit insofern der Fund des heiligen Grals des „musician/fan interface“. (Beaumont 2010)

Bieten die Neuesten Medien tatsächlich einen neuen Schatz an Möglichkeiten, die Kommunikation zwischen Musiker und Fan anzuregen oder zu regulieren und, allgemeiner, sich kritischer mit der Rezeption von populärer Musik auseinanderzusetzen, sei es als Musiker selbst oder auch als interessierter Fan? Welche Möglichkeiten bieten die Neuen Medien, Diskurse zu initiieren, die zwischen guten und schlechten Fans zu differenzieren erlauben?

Um dieser Frage nachzugehen, soll nun exemplarisch die Rezeption eines Songs vergleichend in Neuen (Printmedien und Online) und Neuesten Medien (YouTube) untersucht werden, welcher ebendiese Kontrolle über die eigenen Fans explizit thematisiert: Der Song Ich möchte nicht, dass Ihr meine Lieder singt von Jan Delay. Jan Delay, alias Jan Eißfeldt, veröffentlichte den Song 2001 als Single sowie auf dem Album Searching for the Jan Soul Rebels. Es war seine erste Solo-Veröffentlichung nach Auflösung seiner deutschsprachigen HipHop-Band Absolute Beginner. In dem Song verwahrt sich Jan Delay verbal und auch in der audiovisuellen Inszenierung im gleichnamigen Musikvideo vor der Rezeption seiner Musik durch unerwünschte Fans.

Wie verläuft diese diskursive Zuordnung von richtigen und falschen Fans, in dem Song, aber auch in den Diskussionen von Fans und Musikkritikern über die Musik von Jan Delay? Und welche Verschiebungen sind durch das Web 2.0 insbesondere durch die Media-Sharing-Plattformen zu beobachten? Der Song von Jan Delay eignet sich hierfür im Besonderen, da er vor Einrichtung dieser Plattformen (YouTube wurde 2005 in Betrieb genommen) veröffentlicht wurde, aber gleichzeitig auch das Musikvideo auf YouTube vielfach diskutiert wird. Eine Diskursanalyse soll exemplarisch an diesem Track aufzeigen, inwieweit sich Diskurse über Medienkontrolle verändert haben können, indem die Diskussionen des Songs in der Musikpresse direkt nach Erscheinen des Songs, also 2001, mit den User-Kommentaren des Web 2.0 der letzten beiden Jahre verglichen werden.

Doch zunächst zur Frage: Wie unterscheidet der Song selbst argumentativ zwischen richtigen und falschen Fans? Der Refrain lautet:

Darum möchte ich nicht, dass ihr meine Lieder singt!
Denn gegen und wegen euch tu ich die machen!
Sie sind für die, die sich darin wieder finden.
Und die, die zusammen mit mir über euch lachen!

Der Refrain stellt in Abwandlung der typischen wir/die-Dichotomie (in der Musik auch von Pink Floyds Us & Them popularisiert) eine Gegenüberstellung von „ihr“ und „die“ auf, wobei interessanterweise das bestimmte Personalpronomen sich auf die „falschen“ und der nur im grammatikalischen Sinne „bestimmte“ Artikel im weiteren Songtext sich auf die „richtigen“ Fans bezieht. Mit anderen Worten: Nur die falschen Fans werden direkt angesprochen, die richtigen impliziert. Dieses Prinzip zeigt sich in den Strophen, in denen Jan Delay beschreibt, was die falschen Fans ausmacht:

Die mit dem Sonnenbank-Funk und dem Talkshow-Soul.
Die mit dem Kaufhaus-Punk und hannoveranischem Rock& Roll.
Ihr wählt doch sonst auch immer das Falsche, wenn ihr die Wahl habt.
Ihr steht doch auch sonst immer auf sauber, ordentlich und aalglatt!

Die implizite Dichotomie von guten und schlechten Fans findet ihren Niederschlag in der ungewöhnlichen Spezifizierung der Musikrichtungen. Die richtigen Fans können Funk, Soul, Punk oder Rock’n’Roll hören, die falschen hören nur weichgespülte, ergo kommerzialisierte und unauthentische Versionen dieser Musikrichtungen. Die Dichotomie wird durch Wortkombinationen unterstrichen, die sich bei genauerem Hinsehen als Oxymora entpuppen: Funk, ursprünglich eine schwarze Musik, wird kombiniert mit Sonnenbank, also künstlich erzeugter Hautpigmentierung. Soul, für den ähnliches gilt und der für eine stark emotionalisierte Ausdrucksform steht, wird mit den künstlichen Inszenierungen von Gefühlsäußerungen in Talkshows kombiniert; Punk, ursprünglich aus einer antikapitalistischen Verweigerungshaltung entstanden, mit dem Kaufhaus als Symbol schlechthin des massenhaften Konsums. Der wilde Rock’n’Roll schließlich mit der als langweilig geltenden Stadt Hannover, was natürlich auch als Anspielung auf die Band Scorpions aus Hannover zu verstehen ist.

Bezeichnenderweise hört das Delay zufolge richtige Zielpublikum folglich die unterschiedlichsten Musikrichtungen, aber, so die Hauptsache, in einer authentischen, eben nicht ‚aalglatten‘ Version. Allerdings behandelt diese Strophe Musikrichtungen, die der Song selbst gar nicht reproduziert, die wohl aber auf anderen Songs des Albums Searching for the Jan Soul Rebels zitiert werden.

Der Titel des Albums, zum Beispiel, deutet schon in Richtung Soul, indem er der Platte Searching for the Young Soul Rebels der Dexys Midnight Runners Reverenz erweist (Kriest 2001). Die den Song prägenden musikalischen Richtungen werden in der zweiten Strophe und dem folgenden Refrain impliziert. Zum einen durch die Bezeichnung der falschen Fans als „Babylonier“. Dies bezieht sich auf die den Reggae prägenden Diskurse des Rastafarianismus, der Babylon als Metapher für die Ausbeutung des westlichen Kolonialismus sieht und Parallelen der Herrschaft der Babylonier in Israel mit der Sklavenverschleppung zieht. Erstmalig einer größeren Öffentlichkeit wurde dies durch den kommerziellen Erfolg von The Israelite von Desmond Decker bekannt. Allgemeiner wird Babylon, als Hure Babylon oder Babylon System, als Metapher für einen bedingungslosen Kapitalismus verstanden.

Die zweite Anspielung bezieht sich auf die HipHop-Kultur, die neben Rap, DJing und Breakdance eben auch auf Graffitikunst basiert. „Immer wenn von euern Lippen mein Lied erklingt, ist es wie für einen Writer, wenn sie seinen Wholecar buffen!“ Jan Delay fühle sich demnach wie ein Graffiti-Writer, der es geschafft hat, einen ganzen Eisenbahnwaggon zu besprühen, und zusehen muss, wie dieser nun wieder sauber poliert wird. Anglizismen und Szenesprache richten sich hier, ähnlich wie bei Babylon, gezielt an Fans einer bestimmten Subkultur.

Der Logik des Textes zufolge liegt der zentrale Unterschied zwischen falscher und richtiger Rezeption demnach in dem Vermögen, Delays Songs in seiner Tiefgründigkeit und seinen Insider-Anspielungen rezipieren zu können. Diesen Unterschied in der Rezeption setzt auch das Musikvideo auf visueller Ebene um. Hier sieht man Jan Delay als Terrorist mit Palästinensertuch und Maschinengengewehr auf dem Kölner Karneval. Er lässt sich mit anderen verkleideten Karnevalisten abbilden, die seine Camouflage offensichtlich nur als Karnevalsverkleidung sehen und mitunter feucht-fröhlich in die Kamera winken.

Dass er dabei ein Musikvideo dreht, ist nur den Zuschauern bewusst, die folglich seinen Aufzug auch nicht als Karnevalsklamauk, sondern Delay als gesellschaftskritischen Outsider sehen, der die Gesellschaft subversiv unterwandert und ihr einen Spiegel vorhält. Dabei werden Aussagen des Songs durch die visuelle Gestaltung unterstrichen. Zum Text „Ich möchte mich nicht in Köpfen befinden zusammen mit Gedanken, die unter Einfluss vom Axel-Springer-Verlag entstanden!“ ist ein Kopf von Angela Merkel auf einem Karnevalswagen zu sehen. Bei den Babyloniern, die nicht tanzen können, ist ein Besucher in der Gaststätte zu sehen, der klatscht und tanzt. So erhält Jan Delays Song eine gesellschaftskritische Form, die sich gegen die deutsche Bierseligkeit wendet.

Freilich ist diese Kritik in gewisser Weise ohne Risiko, da sie ausschließlich auf Klischees zurückgreift, im Text auf den proletenhaften Sonnenbank-Besucher, die tumbe Talkshow-Guckerin etc., visuell auf betrunkene und einfältige Deutsche. Dennoch sorgt diese Abgrenzung von Stereotypen, mit denen sich ohnehin kaum jemand identifizieren möchte, für die Positionierung von Jan Delay selbst und die Identifikation mit den richtigen Fans. Paradox gesagt: gerade der offen vorgetragene Verzicht auf Erfolg bringt Jan Delay Erfolg bei seinem Publikum. Populäre Musik ist in einem ständigen Eiertanz zwischen Anpassung und Abgrenzung, Mainstream und Subkultur gebunden. Denn die Platte von Jan Delay mit dem Song, der explizit auf Kommerzialität verzichtet, war durchaus ein kommerzieller Erfolg. Wie verlief die Rezeption von Song und Musikvideo vor dem Zeitalter von YouTube?

In den Print- und Online-Musikmagazinen wird zumeist die Verbindung von „Style und Message“ gelobt und so der Versuch von Jan Delay gewürdigt, gleichzeitig erfolgreich zu sein und sich nicht vom Mainstream vereinnahmen zu lassen. Neben dem Spiegel (In’t Veld 2001; Dallach 2001) und der taz (Rapp 2001) berichtet das HipHop-Magazin Juice von der Gefahr, dass Reggae als „Wohlfühlmucke zum Abschalten“ rezipiert wird, und schreibt in enger Anlehnung an Jan Delay dazu: „Trotz aller eingebauten Stolperfallen für die ewigen Mitgröhler und Falschversteher ist natürlich selbst ein Jan Delay vor solchen Phänomenen nicht gefeit. Aber die werden sich eh disqualifizieren. Babylonier können nun mal nicht singen und tanzen.“ (Hablizel 2001; vgl. Kommenatre in Urban.de; vgl. Friedrich 2001) Uh-Young Kim schreibt in Spex dazu: „Lange hat es keiner geschafft, in seiner Musik so deutlich ein Bild von Deutschland, wie es saugt und feiert, zu zeichnen, und dabei Positionen für ein „Sie“ und „Wir“ zu definieren.“ (Kim 2001) Maik Koltermann argumentiert in Visions ähnlich und belegt Delays Glaubwürdigkeit damit, dass er tatsächlich Medien des Springerverlags keine Interviews gibt. (Koltermann 2001)

Andere Musikmagazine, wie Intro oder Musikexpress (Musikexpress 2001) bemängeln die vereinfachende gut/böse-Dichotomie. Ulrich Kriest schreibt: „inhaltlich ist das Album banal bzw. unterkomplex, es herrscht eine regressive Sehnsucht nach funktionierenden Dichotomien: schwarz/weiß, gut/böse, Freund/Feind, wir/die Babylonier.“ (Kriest 2001) Die professionellen Musikkritiken beurteilen die Dichotomien, mal positiv mal negativ, folglich von einer eher distanzierten Position nach ihrer Prägnanz und Schärfe.

Die Musikkritik der Konsumenten, die sich vor allem auf Einkaufsportalen in Form von Kundenrezensionen oder bei Songtextarchiven findet, nimmt zum Großteil dankbar diese Dichotomie auf, um die Intention des Songs zu erläutern (Edelgroove 2002, Jim Makin 2001, Mirkomaus693 2001, AliASAliAS 2001, Reggie 2010, Lyrics 2001). Bei amazon.de beschränken sich die Kunden-Rezensionen lediglich auf die Musik, die allerdings auch von keinem Kunden als hilfreich empfunden wurden (Ein Kunde 2001). Neu ist allerdings, dass diese Unterscheidung auch emphatisch nachempfunden wird und die Frage beantwortet wird, zu welchen Fans man selbst gehört. Ein User merkt etwas kritischer an, dass die explizite Äußerung, man verzichte auf kommerziellen Erfolg, typisch für den HipHop sei, und bemerkt: „Je öfter das erzählt wird, desto unglaubwürdiger ist es.“ (Makin 2001). So schreibt etwa ein Kunde am 6.4.2002 bei www.ciao.de:

Eigentlich ist die Melodie so eingängig, dass man wieder mitsingen möchte, aber der Text hält einen doch streckenweise davon ab, obwohl ich eigentlich aus voller Kehle mitgrölen könnte, denn ich gehör ja nicht zu denen „mit dem Sonnenbank-Funk und dem Talkshow-Soul, die mit dem Kaufhaus-Punk und Hannoveranischem Rock&Roll“. (Edelgroove 2001).

Was hat sich bei der Rezeption und vor allem bei der Diskussion um die Rezeption in den Neuesten Medien verändert? In den Kommentaren des Songs bei YouTube manifestiert sich das emphatische Nachvollziehen von guten/schlechten Fans in einer neuen Art der Argumentation. Auch hier finden sich vereinzelt bestätigende Reproduktionen seiner Aussagen, welche auch vor dem Hintergrund seines kommerziellen Erfolgs für eine „richtige“ Rezeption plädieren, etwa von User VishesFrostmour (2011): „wie ich ihn für diese message lieebe, vor allem weil n paar jahre später jeder honk seine platte gekauft hat!! leute!! zuhören!!“ Vor allem aber wenden die User die Dichotomie von gut/böse auf sich selbst an und ironisieren mitunter auch die Aussage. Stellvertretend für viele Kommentare schreibt etwa Kutscher Rolf: „bei dem lied fang ich immer an mitzusingen xD“. Andere schreiben, in Anlehnung an Magrittes Ceci n’est pas une pipe: „Ich möchte nicht, dass ihr dieses Video seht“ o.ä.

Neu bei YouTube ist, dass die Dichotomie auch auf andere User angewendet wird, sodass sich innerhalb der community ein Kontrolldiskurs darüber entwickelt, wer die richtigen Fans sind. User 7374samsasam (2011) beklagt in Bezug auf Jan Delays Aussage:

und keiner fühlt sich angesprochen………….aber vieleicht meint er genau DICH und möchte nicht das DU seine lieder singst. Wer weiß am end sind deine gedanken unter dem einfluß des axel springer verlags entstanden……………

Ist hier noch von einem überpersonalen Du die Rede, das sich ganz allgemein an die community richtet, werden andere Kommentare konkreter und persönlicher. So richtet sich User buchstappensuppe1 (2011) direkt an einen vorgängigen Kommentar und schreibt: „@4ioj jan delay will nicht dass du seine lieder singst…“ Ein anderer, mit dem schönen Namen KuchenZecke (2011), schimpft: „Alle Leute die hier drüber meckern das er ne scheiß stimme hat sind anscheinend echt nicht die hellsten. Genau leute wie euch spricht er in seinen songs an, dass ihm das alles egal ist was ihr sagt.“

Andere Kommentare nehmen die subkulturelle Kodierung von Delays Text auf, um so Diskursmacht für sich zu beanspruchen. So schreibt Wurstwasserlemonade (2011) etwa: „Die meisten von euch wissen nicht mal was ein Wholecar ist, alsospart euch euren Kommentar.“ Hier zeigt sich also der Versuch, fehlende subkulturelle Zugehörigkeit zum HipHop, wie sie im Song in codierter Form zum Ausdruck gebracht wurde, als Ausschlußkriterium zu verwenden. Anders herum wird auch intensiv diskutiert, ob der Karneval tatsächlich Ausdruck eines tumben Deutschtums ist, oder nicht doch zumindest für die User, die sich als Rheinländer outen, in Ordnung ist.

Im Unterschied zu amazon.de und co stellen aber auf YouTube auch viele User Jan Delays Aussagen aufgrund seiner Dichotomie in Frage. So schreibt der User schnee42 (2011) nach dem Eindruck von Jan Delays Auftritt beim Eurovision Songcontest: „Ja! Jan, Du warst mal richtig gut. Beim ESC 2011 warst Du schlicht Mainstream. Sehr schade. Hier wolltest Du wohl, dass man Deine Lieder singt …“ Kaaalle (2011) antwortet darauf: „Es gibt keinen alten und neuen Jan. Hätte er vor 8 Jahren seine Funk Geschichten gemacht, würdet ihr heute seine Songs ‚vergiftet‘ finden. Delay bleibt immerder selbe und entwickelt sich stetig weiter. Das ist normal so!“  Hier zeigt sich nicht nur eine interessante Diskussion über die Verlässlichkeit der Autorfunktion Jan Delay im Foucaultschen Sinn, sondern mit dem Hinweis auf „vergiftet“ noch eine Übertragung auf den gleichnamigen Song von Jan Delay. Eine komplexere Argumentation zeigt, nomen non est omen, der User „Blöderkerl“, der scharfsinng über Jan Delay feststellt: „damals hätte er sicher auch nicht gewollt, dass einer wie er selber heute seine lieder singt.“

Exo82bar (2011) überträgt einen andere Textzeile auf die heutige Zeit und fragt:

tja das waren noch zeiten,,,heut singt er genau für die leute über die er in dem track noch her zieht,,,wenn ich jetzt disco oder das ganze bahnhof soul album höre hat er sich extrem verschlechtert,,es geht nur noch in richtung komerz,,,auch der jan macht da keine ausnahme,,,der satz:dann verkauf ich halt nur eine platte,,,kann wohl nicht mit dem momentanen jan nicht verglichen werden,,,schade oder??!!

Auch ein anderer User, youwillshitbrix, stellt fest: „Inzwischen will er, dass ihr seine Lieder singt…und kauft!“ (2011) Andybandy1200 (2011) antwortet versöhnlicher:

@esco82bar Ja, sehe ich genauso wie du… Heutzutage sind die Lieder in den Charts und jeder der den Kommerzwahn mitlebt findet ihn plötzlich auch ganz cool und soo…Schade und ob das in seinem Sinne ist kann wohl nur er beurteilen…

Hofi73 (2011) antwortet auf den allgemeinen Konsens, das Musikvideo zeige den „Jan Delay der alten Zeiten!“ (ein Zitat von Kampfdrohne84): „Ich kann mich euch nur anschließen! Er sollte sich mal vielleicht seine eigenen alten Lieder anhören!“ Jan Delays Homepage und sein Blog, der sich in Anlehnung an YouTube jantube nennt, hat, abgesehen von zwei „Gefällt-Mir“-Statements, übrigens bezeichnenderweise überhaupt keine weiteren User-Kommentare zu dem Song (vgl. die offizielle Homepage Jan Delay).

Die exemplarisch zitierten Beispiele zeigen, dass die Aushandlungen des existentiellen Spagats zwischen Mainstream und Subkultur, zwischen Verbeugung vor und Abweisung des Publikums, durch die Neuen Medien erheblichen Transformationen unterworfen wurden. Populäre Musik ist nicht nur Medienkontrolle von außen unterworfen, von der Warnung vor „explicit lyrics“, kulturkritischen Diskursen bis hin zur Indizierung. Auch innerhalb der verschiedenen Musik(sub)kulturen wird intensiv erörtert, wer unter welchen Umständen welche Musik glaubwürdig machen, aber auch hören darf. Populäre Musik, insbesondere HipHop, unterliegt trotz freier (entgeltlicher oder unentgeltlicher) medialer Verfügbarkeit strengen Diskursen über Normen, Handlungsmacht, die Deutung der eigenen Geschichte, der Verpflichtung zur Tradition: nicht nur in Bezug auf die Musiker und (im doppelten Wortsinn) Produzenten, sondern auch auf die Rezipienten. Nicht jeder darf diese und jene Musik machen und nicht jeder darf sie hören.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Diskussion um die richtigen Fans auf YouTube eine mehrdimensionale Richtung erhalten hat. Ging es bei den Musikkritiken nur um eine distanzierte Beurteilung der von Jan Delay aufgestellten Dichotomie, die Rezensenten von kommerziellen Kaufportalen mitunter auf sich selbst angewandt haben, zeigt sich bei YouTube eine ironische Anwendung erstens auf sich selbst, zweitens auf das Verbreitungsmedium an sich, drittens auf andere User sowie nicht zuletzt viertens auf Jan Delay selbst. Zumindest in diesem exemplarischen Fall zeigt sich, dass sich Diskurse über Medienkontrolle nun bi- oder polylateral in alle Richtungen ausbreiten. Nicht nur vom Künstler zum Publikum, wie im Lied selbst, oder vom Kritiker zum Künstler, wie in der Musikpresse, sondern auch zwischen den einzelnen Fans, die Userkommentare schreiben, sowie schließlich auch, mit Luhmann gesprochen, durch re-entry der Unterscheidung guter/schlechter Fan in Delays Selbstverständnis als guter Musiker.

Michel Foucault hat in der Archéologie du savoir minutiös die epistemologischen Bedingungen beschrieben, nach denen wissenschaftliche Diskurse die Objekte, von denen sie sprechen, zu allererst auch herstellen (Foucault 1969). Diese performative Behauptungsstruktur der Diskurse zeigt sich im Song selbst, aber eben auch in den Reaktionen darauf. Aber erst die interaktive Struktur von YouTube ermöglicht User-Kommentare, die sowohl Reaktion auf das Musikvideo als auch Reaktion auf die vorangehenden Reaktionen sein können. Vielleicht ließe sich Foucaults Beschäftigung mit den epistemologischen Bedingungen für menschliche Erkenntnis konkret in diesem Falle darauf zuspitzen, dass erst die materielle Struktur der Neuesten Medien die Diversifizierung und Bilateralisierung von Diskursen über Medienkontrolle ermöglicht. Foucaults Geschichte der Humanwissenschaften, Les mots et les choses wiederum endet bekanntlich mit dem nicht unkitschigen Vergleich, dass das Bild, das sich der Mensch von sich selbst macht, eines Tages im Meer verschwinden wird, wie ein in den Sand gezeichnetes Gesicht (Foucault 2004: 397 ff.).

Foucault meinte damit, dass die empirisch-transzendentale Doublette, bei der der Mensch gleichzeitig Objekt und Subjekt der Erkenntnis ist, eine historische Konstellation ist, die, ebenso wie sie sich aus Diskursen entwickelt hat, auch wieder von anderen Diskursen abgelöst werden könne. Vielleicht kehrt diese Doublette aber auch unter anderen Vorzeichen wieder als eine Kombination, in der sich der Mensch gleichzeitig als Produzent und Rezipient von Diskursen, als kontrollierter und kontrollierender Mediennutzer begreift. Im Sand zeichnet sich unter aufmerksamer Beobachtung ein Gesicht ab, das gleichzeitig vorsingt, mitsingt und nachsingt und sich manchmal auch die Ohren zuhält.

Literatur

Literatur

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