von Michael Seemann
In seinem „Postscriptum zur Kontrollgesellschaft“ malt Deleuze schon 1990 aus, wie sich unsere Gesellschaft von der Disziplinargesellschaft hin zur Kontrollgesellschaft entwickelt. Zentrales Instrument und Katalysator – man ist versucht zu sagen: Medium – dieser Umwandlung ist der Computer.
Kontrollgesellschaft – verkürzt: die Verwechslung des Gefängnisses mit der elektronischen Fußfessel – wäre somit eine Gesellschaft mit beschränktem Zugang. Automatische Schranken überall. Jeder Schritt wird kontrolliert, jede Handlung reglementiert.
Deleuzes Vorhersage ist über 20 Jahre her und ich bin froh, dass es seither einige Tendenzen gibt, die ihr zu widersprechen scheinen. Wenn wir uns anschauen, wie die Computer, wie das Internet, vor allem die letzten zwei Jahre gewirkt haben – dann kann man nicht umhin, das Gegenteil einer kontrollierten Gesellschaft festzustellen. An allen Ecken und Enden führt das Internet zu unvorhergesehenen – ich würde sogar behaupten – unvorhersehbaren Effekten. Mit kollaborativer Online-Zusammenarbeit wurde die Doktorarbeit eines Bundesministers bis ins kleinste Detail analysiert und als Plagiat entlarvt. In einer so unfassbaren Geschwindigkeit, dass der Minister nicht mehr so schnell hinterherlügen konnte, wie neue Erkenntnisse auftauchten. Wikileaks hat wie ein Wirbelwind die Weltgeschichte verändert, indem es geheime Daten über Nationen und Konzerne öffentlich zur Verfügung stellte. Allen voran die USA standen mehrmals ohne Hosen da – unfähig, sich gegen ein paar Hacker zur Wehr zu setzten. Auf der ganzen Welt brachen Revolutionen, Proteste und Ausschreitungen aus, die sich in ihrem Kern spontan und mithilfe des Internets zusammenfanden. Hackergruppen wie LulzSec und Anonymous brachten Großkonzerne, Bundespolizisten und Regierungsorganisationen in Verlegenheit und Milliarden private Daten in Umlauf. Ich habe vor etwa anderthalb Jahren angefangen, diese Art von Phänomen unter dem Begriff Kontrollverlust zu sammeln und zu untersuchen.
Warum Kontrollverlust? Ich habe dafür erst vor kurzem eine – ich gestehe, nicht sehr elegante – Definition ersonnen:
Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt. (Seemann 2011)
Ich halte diese Definition nach wie vor nicht für falsch, aber ich bin bis heute nie richtig glücklich damit geworden. Ich will deswegen versuchen, den Begriff etwas tiefer und theoretischer – und somit auch etwas genauer zu fassen.
Kommen wir zunächst zurück zum Begriff der Kontrolle. Etymologisch stammt der Begriff aus dem französischen „contrôle“, in älterer Schreibweise „contrerolle“ – frz. „contre“ → „gegen“ und „rôle“ → „Rolle, Register, Liste“. Die „Contre Role“ bezeichnet nämlich ursprünglich ein „Gegenregister zur Nachprüfung von Angaben eines Originalregisters“.
Die erste Überraschung: Kontrolle ist ein Register, ist ein Archiv. Es bewahrt Informationen auf, um zu Vergleichszwecken herangezogen zu werden. Es ist somit zweierlei: Es ist externalisiertes Gedächtnis und es ist externalisiertes Vertrauen. Es markiert den Erwartungswert, an dem sich eine Entität in Zukunft messen lassen muss. Es reglementiert die Zukunft.
Etwas polemisch verkürzt könnte man sagen: Kontrolle ist der Versuch, mithilfe eines Archivs die Zukunft durch die Erwartungswerte der Vergangenheit zu ersetzen.
Es wird in etwa diese Überlegung gewesen sein, die Deleuze zu seiner Idee der Kontrollgesellschaft bewegte. Die Kontrollgesellschaft wäre also eine Gesellschaft der Vorhersagbarkeit, eine Gesellschaft ohne Zukunft – das heißt ohne Ereignis.
Wenn die Kontrolle der Zukunft durch die Vergangenheit über die Möglichkeiten des Archivs verläuft, haben wir es tatsächlich seit dem Computer mit einer gigantischen Machtverschiebung zu tun. Nur als Orientierung: Als Deleuze seinen Text über die Kontrollgesellschaft schrieb, kostete ein Gigabyte Festspeicher noch 10,000 Dollar. Heute kostet die selbe Speichermenge weniger als 3 Cent. Der Computer als Archivmaschine ist sicher die mächtigste „Role“ in „Contre Role“, die wir Menschen je hatten.
Warum aber stellt sich die Herrschaft der Vergangenheit über die Zukunft dann nicht ein? Sicher, durch die fallenden Preise hat sich ein Demokratisierungseffekt ergeben, der die Kontrollkraft des Archivs egalitär ausbreitet. Das ist sicher ein Teil der Erklärung, aber der Kontrollverlust ist nur zum geringen Teil ein Effekt der Gegenkontrolle. Mich interessiert hier in erster Linie der Kontrollverlust des Archivs durch das Archiv. Wie funktioniert die Kontrolle des Archivs? Worauf basiert seine Funktionsweise und seine Macht und was durchbricht sie?
Es liegt natürlich nahe, sich zuerst an den Lehrer von Deleuze – Foucault – zu wenden, der als erster einen philosophischen Begriff des Archivs ausarbeitete. Natürlich ist hier Vorsicht geboten, denn Foucault bestimmt seinen Begriff des Archivs durchaus sehr verschieden von dem Alltagsbegriff.
Das Buch Archäologie des Wissens ist der Versuch Foucaults, seine Forschung methodisch und theoretisch zu fundieren. Er hatte bereits einige bahnbrechende Werke vorgelegt, in denen er beispielsweise das Gefängnis, die Psychiatrie, das Krankenhaus und die Humanwissenschaften in ihrem Wandel untersuchte. Nun versucht er diesen Wandel zu formalisieren und führt dabei an zentraler Stelle seinen Archivberiff ein. Das Archiv ist nach Foucault die Regelhaftigkeit der Formation und Transformation der Diskurse. Damit ist schon mal klar, dass das Archiv kein Ort oder Raum ist, auch kein materieller Träger von Eindrücken oder Daten, sondern ein System. Es ist das System der Aussagbarkeit, das innerhalb eines Diskurses zu einer bestimmten Zeit herrscht.
Foucault hatte verschiedentlich gezeigt, dass Diskurse zu unterschiedlichen Zeiten nicht nur inhaltlich variierten, sondern dass bestimmte Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit bestimmte Aussagen überhaupt möglich waren. Und dieses System der Möglichkeit und Unmöglichkeit – der Möglichkeitsraum von Aussagen – ist das, was er „Archiv“ nennt.
Für uns ist das gleich mehrfach interessant.
1) Obwohl sich Foucault eigentlich dagegen verwahrt, dass sein Begriff des Archivs eine dingliche Entsprechung hat, so ist doch seine Funktion der Kontrolle analog zu unserer vorherigen Umschreibung: Es geht um die Regulierung der Möglichkeit von Aussagen und damit die Regulierung von Zukunft.
2) Die Zeitlichkeit des Archivs. Denn das Archiv ist ein je temporäres. Es hat einen Beginn und ein Ende. Der Diskurs wandelt sich abrupt und auf einmal ist das ganze System ein anderes. Es werden ganz andere Aussagen, nach ganz anderen Regeln geformt. Diese Brüche sind es, die beobachtbar sind. Sie sind es aber nur, so Foucault, sofern sie für den Beobachter bereits lange genug zurückliegen. Für das Archiv des eigenen Diskurses ist man blind.
Die Beschreibung des Archivs entfaltet ihre Möglichkeit […] ausgehend von den Diskursen, die gerade aufgehört haben, die unsrigen zu sein; ihre Existenzschwelle wird von dem Schnitt gesetzt, der uns von dem trennt, was wir nicht mehr sagen können, und von dem, was außerhalb unserer diskursiven Praxis fällt; (Foucault 1981: 189)
Die Macht des Archivs ist also beschränkt – zumindest zeitlich. Die Auslöser dieser Verschiebungen sind nach Foucault allerdings kontingent. Seien es zufällige wissenschaftliche Entdeckungen oder Machtverschiebungen der einen oder anderen Art. Und dennoch: das Archiv kann die Zukunft nur eine gewisse Zeit im Zaum halten. Dann passiert der Bruch, man könnte sagen, dann bricht die Zukunft in das Archiv ein und spült es hinfort und/oder errichtet ein neues Archiv. Es gibt neue Regeln und damit neue Aussagen, keine besseren, wohlgemerkt, sondern nur andere.
An dieser Stelle ist man versucht, den Bruch, die Diskontinuität bereits als zumindest dem Kontrollverlust analoges Moment zu betrachten. Aber bleiben wir vorsichtig, insbesondere, weil damit nicht viel gewonnen wäre.
Kommen wir lieber zu einem anderen Schüler von Foucault. Ein Schüler, der sich allerdings früh abgespalten hat, der eigentlich seine Karriere mit dieser Abspaltung begann: Jaques Derrida. Es war Derrida, der seinen Lehrer – der gerade erst mit seinem frühen Werk Wahnsinn und Gesellschaft Furore machte – öffentlich anging. Foucault untersucht darin die Geschichte des Wahnsinns als einen gewaltsamen, intellektuellen Abspaltungsprozess. Die Geburt der Vernunft, so seine These, sei einhergegangen mit der gleichzeitigen Abspaltung und Internierung bzw. Ausschließung des Wahnsinns aus der Gesellschaft.
In Cogito und die Geschichte des Wahnsinns nimmt Derrida dieses Buch zwei Jahre später auseinander. Und obwohl Foucaults Begriff des Archivs noch nicht in der Welt ist (er sollte erst 7 Jahre später folgen), wagt es Derrida, quasi nach dem Archiv Foucaults zu fragen – also nach der Bedingung der Möglichkeit seiner Aussagen zum Wahnsinn. Derrida glaubt nämlich, dass „es kein Zufall [ist], wenn ein solches Vorhaben heute hat entwickelt werden können,“ und zwar weil „eine bestimmte Befreiung des Wahnsinns begonnen hat.“ (Derrida 1981: 63)
Derrida spielt hier auf Freud und die Psychoanalyse an, die Foucault in seinem Buch lediglich in den Diskurs der Abspaltung einreiht. Derrida aber will darauf hinaus, dass erst die Psychoanalyse mit ihrer durchaus differenzierteren Sicht auf den „Wahnsinn“ – der nämlich bei Freud ja schon nicht mehr schlichte Unvernunft ist – die Möglichkeit bereitete, Aussagen über die Spaltung von Wahnsinn und Vernunft zu treffen.
Es war nicht zuletzt auch dieser Streitpunkt mit Derrida, der Foucault dazu bewog, seine Methodik in Archäologie des Wissens nieder zu legen. Der Archivbegriff, wie ihn Foucault hier entwirft, befreit ihn nämlich von dem Vorwurf Derridas, seine eigenen Voraussetzungen nicht hinterfragt zu haben. Der blinde Fleck für das eigene Archiv ist nach Foucault konstitutiv, jedenfalls bis zu seiner „Existenzschwelle“. „Im Grenzfall,“ so Foucault, „wäre nicht die Seltenheit der Dokumente, so wäre die größte zeitliche Perspektive nötig, um es [das Archiv] zu analysieren.“ (Foucault 1981:198)
Diese Stelle verdient einen kurzen Einschub: Die Seltenheit der Dokumente ist sicher ein Punkt, bei dem sich – weit über das hinaus, was Foucault sich hat vorstellen können – unsere Realität von der seinen wegentwickelt hat. Eric Schmidt, ehemaliger CEO von Google, behauptete 2010, dass innerhalb von 48 Stunden so viele Daten produziert werden, wie seit Beginn der Menschheit bis 2003.
Unser Jetzt beginnt sich langsam aber sicher in die von Georges Luis Borges beschriebene Bibliothek von Babel zu verwandeln. Eine Bibliothek, in der jedes nur mögliche Buch, jeder logisch mögliche Text, jede mögliche Aneinanderreihung von Buchstaben existiert. Glauben wir Foucault, dann bahnt sich hier eine Unmöglichkeit der Diskursanalyse an. Der Korpus der Aussagen übersteigt sicher jede realistische Analysemöglichkeit. Jedenfalls die, die Foucault sich vorzustellen im Stande ist. Nun ist mit dem Computer aber ja nicht nur die Menge der produzierten Daten gestiegen, sondern auch deren Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Vor allem die Entwicklung der relationalen Datenbank in den 70ern hat die Möglichkeit zur Analyse von großen und komplexen Datenmengen weit voran gebracht. Und ein bisschen ähnelt das, was Foucault mit seiner Analyse der Aussagen tut, dem, was moderne Dataminingalgorithmen vollbringen. Sie finden verdeckte Regelmäßigkeiten in den Daten, Korrelationen und Strukturen und versuchen deren Gesetzmäßigkeiten zu finden. All das schafft die Computeranalyse, indem sie es fertig bringt, in Echtzeit Datenmengen aufeinander anzuwenden, also auf neue Weise zu verknüpfen. Hätte Foucault seine Aussage von der Endlichkeit der Dokumente auch geäußert, wenn er von den enormen Möglichkeiten der computergestützten Analyse gewusst hätte?
Aber bleiben wir zunächst bei dem Streit zwischen Derrida und Foucault. Der Kern ihrer Auseinandersetzung dreht sich nämlich in Wirklichkeit um das Ereignis. Ereignisse sind bei Foucault Singularitäten. Sie kommen aus dem Nichts und verändern in ihrer Einzigartigkeit unter Umständen das Archiv. Wir erinnern uns an die Diskontinuitäten und Brüche, die das Archiv verändern. Das Ereignis ist bei Foucault nicht determiniert, aber determinierend. Es determiniert selbst, nämlich das Archiv. Es findet also eine, wenn auch einzigartige, das heißt unwiederholbare Einschreibung statt.[1]
Ausgerechnet entlang dieser Frage der Einschreibung hat Derrida seinen eigenen Begriff des Archivs entwickelt. Allerdings viel später, 1994, 10 Jahre nach Foucaults Tod. Derridas Archivbegriff ist nicht so abstrakt wie der Foucaults, sondern buchstäblich körperlich, und doch ist sein Begriff insofern analog, als dass er ebenso das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, bestimmt. Aber eben gerade durch seine Körperlichkeit:
die technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung und seiner Beziehung zur Zukunft. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet. (Derrida 1997: 35)
Das Ereignisdenken bei Derrida ist im Gegensatz zu dem Foucaults von der Einschreibung her gedacht. Erst die Einschreibung und damit die Möglichkeit, sich auf das Ereignis zu beziehen, das heißt, es zu wiederholen, macht die Ereignishaftigkeit des Ereignisses aus. Derrida fragt sich, wie es das Archiv der Psychoanalyse verändert hätte, wenn Freud mit seinen Mitarbeitern, seiner Familie, seinen Patienten etc. per Telefon, tragbaren Tonbandgeräten und vor allem E-Mail kommuniziert hätte. Denn das wesentliche Moment ist die Geschwindigkeit der Kommunikation und damit der Einschreibung, die durch die E-Mail möglich wird.
ein mit der Hand geschriebener Brief braucht so und so viele Tage, um in eine andere europäische Stadt zu gelangen, und nichts ist je unabhängig von diesem Verzug. Alles bleibt seinem Maße unterworfen. (Derrida 1997: 35)
Die Elektronische Post sei hingegen dabei,
den gesamten öffentlichen und privaten Raum der Menschheit und zunächst die Grenze zwischen dem Privaten, dem (privaten oder öffentlichen) Geheimen und dem Öffentlichen oder Phänomenalen zu verwandeln. Es ist nicht nur eine Technik im geläufigen und begrenzten Sinne dieses Ausdrucks: in einem unerhörten Rhythmus, gleichsam augenblicklich, muss diese instrumentelle Möglichkeit der Hervorbringung des Eindrucks, der Bewahrung und Zerstörung des Archivs zwangsläufig von juridischen und folglich politischen Veränderungen begleitet werden. Und diese affizieren das Recht auf Eigentum, das Recht zu publizieren und zu reproduzieren – und nichts weniger. (Derrida 1997: 35f.)
Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass es diese Passage war, die mich in ihrer prophetischen Hellsichtigkeit beim ersten Lesen in den Bann zog. Was Derrida hier beschreibt, sind exakt die Umwälzungen, die wir seit den letzten 15 Jahren in Sachen Urheberrecht und Privatsphäre, Staatsgeheimnissen und der Kontrolle von Kommunikation erleben. Derrida nimmt den Kontrollverlust hier zweifellos vorweg, als eine Funktion des Archivs, das zunehmend mächtiger, weil schneller und umfassender wird.
Aber was heißt es, dass das Archiv das Ereignis genau so konstituiert, wie es es aufzeichnet? Es heißt zweierlei:
Erstens: Es heißt, dass das Ereignis vom Archiv kommt, dass das Archiv eben nicht – jedenfalls nicht nur – das Ereignis reguliert und einschränkt, sondern dass es es geradezu hervorbringt. Ohne Ort der Einschreibung keine Wiederholbarkeit und damit kein Ereignis – und keine Zukunft.
Zweitens heißt es aber auch, dass keine Operation am Archiv das Archiv selbst unangetastet lassen wird. Dass – ich zitiere – „die Interpretation des Archivs ihren Gegenstand, ein gegebenes Erbe nämlich nur erhellen, lesen, interpretieren, einrichten kann, indem sie sich darin einschreibt, indem sie es öffnet und es ausreichend erweitert, um mit vollem Recht darin Platz zu nehmen.“
Und Derrida fügt an: „Es gibt kein Metaarchiv.“ (Derrida 1997: 122)
Das Archiv befragt sich, indem es sich in sich einschreibt. Die Frage an das Archiv ist niemals unschuldig. Sie ist selbst ein Archiv, bzw. beruht auf einem oder mehreren Archiven, die sich, wenn sie sich an das Archiv richten, in es einschreiben.
Es ist also richtig: das Archiv determiniert das, was aufschreibbar, also sagbar ist. Aber gleichzeitig erhöht es die Zahl der Anschlussstellen, es forciert die Wiederholung, es beschleunigt die Rückantwort, es öffnet sich selbst für die Einschreibung. Es ist somit nicht nur und in erster Linie ein Agent der Vergangenheit – im Gegenteil:
Ebensosehr und mehr noch als eine Sache der Vergangenheit, ihr vorrangig, müsste das Archiv das Kommen der Zukunft einbeziehen. (Derrida 1997: 60)
Beziehen wir das ruhig testweise zurück auf Derridas Kritik an Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft. Foucault hätte nach Derrida erkennen müssen, dass das Archiv der Geschichte des Wahnsinns eben kein abgeschlossenes ist, dass seine „Existenzschwelle“ noch lange nicht überschritten ist, sondern dass eine Reihe von Einschreibungen und Umschreibungen am Werk sind, von denen eine das Ereignis der Psychoanalyse war und ein weiteres das Ereignis von Foucaults eigener Diskursanalyse. Das heißt A) dass das Archiv der Trennung von Wahnsinn und Vernunft die Psychoanalyse und B) dass die Psychoanalyse Foucaults Diskursanalyse – zumindest mit – ermöglicht hat. Auch wenn Foucaults Analyse sich den Anschein gibt: auch sie ist kein Metaarchiv.
Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass Foucault erst durch die Linse der Psychoanalyse hat erkennen können, wie die brutale Trennung des Wahnsinns von der Vernunft und sein jahrhundertelanges Schweigen ein Akt des Ausschlusses war. Damit geht eine empfindliche Verschiebung von statten, die das Archiv – hier meine ich wieder Foucaults Begriff – umdeutet. Die Kontrolle des Archivs verschiebt sich von dem System der Aussagbarkeit (was kann überhaupt gesagt werden?), hin zum System der Abfrage (was überhaupt gefragt werden kann).
Der so gewendete – und nun instrumentelle – Charakter des Archivs ermöglicht einen geschärften Blick zurück auf das, was wir „Archäologie“ nennen – und zwar nicht nur die „Archäologie des Wissens“, sondern die Archäologie im Allgemeinen. Dass nämlich die Technologie der Rückfrage an das Archiv selbst ein Archiv ist. Und auch dieses Archiv der herkömmlichen Archäologie wächst und wächst. Von der Radiokohlenstoffdatierung, der Linguistik, der Zellbiologie, der Computersimulation und der Ultraschallsensorik eignet sich die Archäologie ein immer weiter wachsendes Archiv der Abfrage an. Und so erfahren wir über längst geborgene Artefakte heute mehr als gestern und übermorgen mehr als morgen. Gleiches lässt sich natürlich über das Archiv der Diskursanalyse und über das Archiv der Psychoanalyse sagen, ebenso wie über das Archiv der Dekonstruktion – die allesamt Archäologien, also Abfragen an ein Archiv sind. Die Unabschließbarkeit des Archivs und damit seines Kontrollverlusts ist begründet in dieser Wucherung der Abfrage.
Was wir hier Archäologie nennen, kennt man in der Informationstechnologie als „Datamining“ und neuerdings als „Big Data“. Es geht darum, aus Daten Daten zu generieren, das heißt also ein Archiv aus einem Archiv zu gebären. Die von Derrida angesprochene Geschwindigkeit, mit der Archive miteinander korrespondieren, hat sich so dramatisch erhöht, dass die Quantität in eine neue Qualität umgeschlagen ist. Die heutigen Archive werden durch algorithmische Routinen, die die Verknüpfungen der Anschlussstellen nicht nur selbsttätig vornehmen, sondern sich auch selbstständig suchen, bestimmt. Bei Big Data werden quasi nur noch petabytegroße Datenmonster aufeinander losgelassen, ohne dass die Wissenschaftler vorher überhaupt eine Hypothese formulieren müssten. Die Erkenntnisse, die aus diesen Verfahren gezogen werden, sind zwar nützlich, aber selten noch menschlich verstehbar.
Diese – ich nenne es – Echtzeitarchäologie hat dazu geführt, dass wir Daten nicht mehr nur für einen bestimmten Zweck speichern, das heißt, auf eine bestimmte Abfrage hin. Unsere Archive haben sich seit der Erfindung der relationalen Datenbank davon verabschiedet, in ihrer Struktur im Vorhinein zu berücksichtigen, welche Fragen eines Tages an sie gestellt werden. Ebenso beginnen wir zu akzeptieren, dass wir keinerlei Vorstellungsfähigkeit dafür besitzen, was eine Aussage, was ein Ereignis, was ein bestimmtes Datum bedeutet haben wird. Mit jeder Prozessorgeneration und damit der erneuten Beschleunigung der Kommunikation der Archive verschärft sich der Kontrollverlust. Dekonstruktion wird zum Alltagsgeschäft.
Die Frage der „Ordnung des Wissens“ verliert zunehmend an Relevanz. Wo sowieso alles aufschreibbar ist und wo sich durch die Abfrage eine beliebige, vielleicht viel bessere, aber zumindest eine zielführende Ordnung in Echtzeit herstellen lässt, braucht es keine Onotologien, Taxonomien und Hierarchien mehr. Die Frage des Archivs verschiebt sich von der Frage der Einschreibung hin zur Abfrage und damit zu dem, was man in einem Jetzt nicht mehr kontrollieren kann. Die vermeintlichen Kontrollapparate und ihre Archive werden in Wirklichkeit die Anknüpfungspunkte vervielfältigt haben, durch die die Zukunft hineinspaziert. Je größer und mächtiger die Archive, desto vielfältiger die Anknüpfungspunkte, desto reichhaltiger die möglichen Anschlussoperationen der Abfrage. Die Kontrollgesellschaft mag auf dem Vormarsch sein, aber die dahinter stehende Macht wird den durch sie ausgelösten Kontrollverlust nicht überleben.
Derrida hat bei seiner Beschäftigung mit dem Archiv, halb ernsthaft, halb aus Provokation eine Wissenschaft des Archivs vorgeschlagen: eine „Archivologie“ (Derrida 1997, 61). Mir scheint es heute ein notwendiges und lohnendes Projekt, statt einer Archivologie eine Queryologie – eine Wissenschaft der Abfragesysteme – zu verfolgen. Eine Wissenschaft, die statt der Bedingungen der Möglichkeit von Archivierung die vielfältigen Auswirkungen der Abfrage untersucht, die von der Googlesuche bis zu den Browsertechnologien längst die Brennweite unseres Wissens geworden ist.
ANMERKUNGEN
1. Zumindest ein Hinweis, der Zweifel an der tatsächlichen Körperlosigkeit des Foucaultschen Archivs aufkommen lässt.↑
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