Wiederkehrende Erwartungen an interaktive Medien

von Felix Schrape

 

Abstract: Der Text gibt einen Überblick zu verbreiteten Veränderungserwartungen, die seit den 1970er Jahren an interaktive Medien geknüpft werden, und kontrastiert diese mit den bislang beobachtbaren Nutzungspräferenzen der deutschen Bevölkerung. Anschließend werden Regelmäßigkeiten und mögliche Gründe für ihr Auftreten diskutiert.

 

1    Einleitung

„Das Morgen ist schon im Heute vorhanden“ (Jungk 1952: 17) – sei es in Form von Prophetien oder Weissagungen, die bereits frühen Gesellschaften dabei helfen sollten, ihre Umwelt kontrollierbarer zu machen (Elias 2001: 118), oder als „kritische und systematische Beschäftigung mit der Zukunft“ (Flechtheim 1972: 11), wie sie sich seit den 1950er Jahren in westlichen Industrienationen etabliert hat. Ohne Orientierung an der Vergangenheit (Identität) und Zukunft (Kontingenz) können weder Bewusstseins- noch Kommunikationssysteme operieren, ohne Erwartungen können Organisationen keine Entscheidungen treffen (Luhmann 1997: 149). Und da sich seit gut vier Jahrzehnten der Eindruck gewinnen lässt, dass die Gesellschaft in einem immer rascheren Takt von kommunikationstechnischen Innovationen überrollt wird, scheint gerade in diesem Bereich der Bedarf an Auguren unerschöpflich zu sein: Nicht erst seit der Etablierung des World Wide Web werden in aller Regelmäßigkeit apologetische und apokalyptische Erwartungen formuliert, die neuen Medien radikale Effekte in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen zuschreiben (vgl. schon: Bagdikian 1971; Beinhauer & Schmacke 1971).

Aufgrund der Diversität an ineinander wirkenden Variablen bleiben die langfristigen Rückwirkungen medialer Innovationen indes kaum taxierbar, auch wenn sich aus der Vielzahl an Erwartungen eindrucksvolle „Zufallstreffer“ (Tonnemacher 2008) herausfiltern lassen, wie z.B. eine Vorhersage aus dem Jahr 1910, dass in 100 Jahren „jedermann sein eigenes Taschentelephon haben“ wird (Bremer 1910: 35). Vor diesem Hintergrund greifen die meisten professionellen Prognosen seit den 1970er Jahren denn auch auf ausgefeilte Methodensets zurück, um die Gefahr der Beliebigkeit zu minimieren. Nichtsdestotrotz wurden die gesellschaftlichen Effekte neuer Medien in den letzten 40 Jahren insbesondere im öffentlichen Diskus in vielen Fällen überschätzt, wie sich schon anhand der Vorhersagen zu Videorecorder, Btx und Kabelfernsehen, aber auch mit Blick auf die Visionen um das Web (2.0) zeigen lässt. Die folgenden Kapitel geben einen Überblick zu den Erwartungsverläufen um die genannten Medien und kontrastieren diese mit den empirisch beobachtbaren Nutzungspräferenzen der deutschen Bevölkerung, welche zwar keine differenzierte Auskunft über die Transformationsprozesse in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen geben können, aber durchaus anzeigen, inwieweit sich die neuen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten bislang übergreifend durchsetzen konnten.

 

2    Neue Medien in den 1970er und 1980er Jahren

Die Zeit berichtete 1970 über ein neues audiovisuelles Produkt, das „als gleichberechtigtes oder überlegenes Medium neben Buch, Schallplatte, Tonband, Fernsehen und Hörfunk treten“, seinen Nutzern eine Unabhängigkeit von massenmedialen Programmen ermöglichen und bis Ende des Jahrzehnts eine ähnliche Akzeptanz wie der Plattenspieler erreichen sollte: die „Bildkassette“ (Zimmer 1970; Zimmer 1970b). Der Spiegel (1970: 105) beobachtete im selben Jahr, dass „die Branche [.] aufgeschreckt von der Vorstellung [sei], welche Verbreitungsmöglichkeiten dieses neue Medium bieten […] könnte“, ließ Hoimar von Ditfurth über universitäre Bildungsprogramme via Videokassette spekulieren und mutmaßte über eine kommende Marktführerschaft des Bertelsmann-Konzerns, da dieser über seine Lesering-Illustrierten „ohne zusätzliche Kosten schlagkräftig Abonnentenwerbung für die Kassette“ betreiben könne.

Die Prognos AG vermutete freilich 1972, dass sich ein Heimvideomarkt erst in den frühen 1980er Jahren entwickeln werde, und sprach der Bildplatte das größte Marktpotential zu (Tonnemacher 2004). Aus heutiger Sicht gingen diese Prognosen in die richtige Richtung, bezogen auf das Jahr 1980 aber waren sie fehlgeleitet: Statt der anvisierten 1,5 Mio. abgesetzten Bildplatten waren Television Discs mit mechanischer Abtastung nicht mehr auf dem Markt vorhanden (Spiegel 1980) und auch die später eingeführte LaserDisc konnte sich aufgrund hoher Geräte- und Contentpreise zunächst nicht etablieren. Der Videorekorder hingegen wurde zunehmend zu einem selbstverständlichen Bestandteil des Wohnzimmers, auch weil das VHS-System nach jahrelangen Formatkriegen die Marktführerschaft erlangen konnte (Eimeren & Ridder 2005). Zu einem anderen Kanälen überlegenen Medium, das eine essentielle Unabhängigkeit von massenmedialen Sendeanstalten ermöglicht, ist die „Bildkassette“ allerdings nie geworden.

Der Bildschirmtext (Btx) sollte indes ab 1980 „die größte Informationsrevolution seit der Erfindung des Buchdrucks“ werden, den Abschied von Druck bzw. Papier einläuten (Spiegel 1980b: 142) und überdies für den „informierten Bürger“ eine ideale Möglichkeit bieten, um „an wesentlichen Entscheidungen unmittelbar teilzunehmen“ (Haefner 1984: 290). Angesichts solcher Hyperbeln erscheint es kaum verwunderlich, dass sich fast alle großen massenmedialen Anbieter mit Angeboten an den Btx-Feldversuchen in den frühen 1980er Jahren beteiligten, zumal eine von der Deutschen Bundespost in Auftrag gegebene Untersuchung für 1986 ca. 1 Million und für 1989 ca. 6 Millionen Btx-Nutzer vorhersagte (Königshausen 1993). Eine unabhängige wissenschaftliche Begleitstudie zu den Feldversuchen ging zwar von einer weniger steilen Diffusionskurve aus, teilte jedoch die verbreitete Ansicht, dass Btx auf lange Sicht zu einem Massendienst avancieren würde (Seetzen et al. 1983; Fromm 2000).

 

  1984 1986 1988 1990
Anschlüsse 19.500 58.300 146.900 258.000
Anbieter 3.300 3.500 3.400 3.100
Seiten 512.000 589.000 667.000 702.000

Tabelle 1: Entwicklung Btx-Anschlüsse, -Anbieter und -Seiten (BRD)
Quelle: Brepohl 1993: 25; Königshausen 1993 (Zahlen gerundet)

 

Nach seiner Markteinführung 1983 zeigte sich jedoch schnell, dass sich das Interesse der Konsumenten an dem interaktiven Bildschirmmedium jenseits einer technikaffinen Gruppe an frühen Nutzern in Grenzen hielt (Tab. 1): 1986 wurden erst 58.000 Btx-Anschlüsse gezählt, obwohl das Spektrum an Inhalten mit über einer halben Millionen Btx-Seiten von 3500 Anbietern durchaus mit dem deutschsprachigen Angebot im frühen Web vergleichbar war, und auch bis 1990 konnte sich die Teilnehmerzahl lediglich auf rund 250.000 steigern. Entgegen der Vorstellung, dass der „Bildschirmtext [.] eine mit dem Fernsehen vergleichbare Ausbreitung [erreicht]“ (Kulpok 1985: 8), konnte sich Btx allenfalls auf geschäftlicher Ebene etablieren.

Aus heutiger Sicht erscheint es einerseits überraschend, dass sich der Bildschirmtext jenseits seiner frühen Nutzer nicht durchsetzen konnte, denn vordergründig bot er bereits viele der neuen Kommunikationspotentiale, die später mit dem World Wide Web assoziiert wurden: Btx-Nutzer konnten schon in den 1980er Jahren elektronische Briefe schreiben, in Echtzeit chatten, Homebanking betreiben, Nachrichten abrufen oder in elektronischen Lexika recherchieren. Andererseits bestanden im Vergleich zum heutigen Web neben den hohen Anschaffungskosten für Modem bzw. Decoder und der geringen Bildschirmauflösung aber auch schwerwiegende Einschränkungen: Die Btx-Inhalte wurden auf zentralen Servern ablegt, wer publizieren wollte, musste sich die Rechte dazu erkaufen, die Nutzer zahlten pro Seitenabruf und die Angebote waren nicht miteinander verknüpft (Spiegel 1984: 58).

Das Kabelfernsehen schließlich war das dritte neue Medium, das in den 1970/1980er Jahren weitreichende Erwartungen provozierte: Apologeten hofften, dass es zur „Schaffung basisdemokratischer Strukturen“ beitragen könnte (Modick & Fischer 1984: 9; Arns 2004), und Apokalyptiker beschrieben das Kabel „als Unkraut […], das alle anderen Medien und alle freie Information und Kommunikation schnell zu überwuchern und zu ersticken droht“ (Ratzke 1975: 104). Während mithin Mitte der 1970er Jahre noch einige Experten daran zweifelten, dass sich das Kabelfernsehen hierzulande überhaupt durchsetzen könnte – u.a. da sich bei den Rezipienten kaum ein Bedarf an zusätzlichen Rundfunksendern diagnostizieren ließ (Hymmen 1976: 146) – wurde seine Etablierung Mitte der 1980er Jahre auch aufgrund entsprechender politischer Rahmensetzungen kaum mehr in Frage gestellt: Die Prognos AG z.B. sagte 1987 für 1995 eine Haushaltssättigung von 49 Prozent in den alten Bundesländern voraus und lag damit nicht weit von dem tatsächlichen Wert (46 Prozent) entfernt (Schrape & Trappel 2001: 54). Trotzdem aber führte auch das Kabelfernsehen nicht zu einer Erosion der klassischen Massenkommunikation oder zur Fragmentierung einer allgemeinen, massenmedial adressierbaren Öffentlichkeit.

Die Erfahrungen mit der „Bildkassette“, Btx und dem Kabelfernsehen hätten also schon Anfang der 1990er Jahre zu der Einsicht führen können, dass radikale Veränderungsthesen den Blick auf die realiter oft graduelleren und vielschichtigeren Transformationsverläufe verstellen: Der Videorecorder stellte keine Gefahr für den Rundfunk dar, aber er flexibilisierte bis zu einem gewissen Grad die private Mediennutzung; der Bildschirmtext lehrte, dass erweiterte Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten von den Konsumenten nicht per se goutiert werden; und das Kabel zeigte, dass auch bei einer zügigen Etablierung neuer medialer Kanäle keine grundsätzlichen Verschiebungen in der Medienlandschaft auftreten müssen.

Rückblickend entsteht der Eindruck, dass die genannten ‘neuen Medien’ auch als Projektionsfläche für Veränderungswünsche dienten, die sich bereits vor ihrem Auftreten herauskristallisiert hatten (vgl. Wehner 1997: 100): Schon Adorno (1963) sah in der Dominanz der Massenmedien eine Hauptursache für „den Blockierungszusammenhang spätkapitalistisch kontrollierten Bewusstseins“, Prokop (1972) und Holzer (1973) verglichen ihre Funktionsweise mit der Logik der kapitalistischen Warenproduktion und Enzensberger (1970) wie Janshen (1980) vermuteten, dass die entfremdenden Effekte der Massenkommunikation einzig durch die Aufhebung der Rollenverteilung von Produzenten und Konsumenten überwunden werden könnten. Zugleich kursierten Utopien, die ein „reaktives Kommunikationssystem“ in Aussicht stellten, das „mehr Informationen unter mehr Menschen streuen kann als je zuvor“ (Spiegel 1972: 158) und „Rezipienten Gestaltungsfunktionen“ zuweist (Mast 1986).

 

3    Das frühe World Wide Web

In diese Gemengelage an Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen stieß ab 1991 Tim Berners Lee mit seiner Erfindung des World Wide Web, und schon die erste öffentliche Projektnotiz im Usenet führt vor Augen, dass das Web aus anderen Motiven heraus entwickelt wurde als die Bildschirmtext-Dienste der 1980er Jahre: „The WWW project merges the techniques of information retrieval and hypertext to make an easy but powerful global information system […] with the philosophy that much academic information should be freely available to anyone.“ (Berners-Lee 1991) Ziel war der freie Informationsaustausch bei dezentralen Organisationsstrukturen und die Publikationsmöglichkeit für jeden Nutzer. Auch die Onliner der ersten Stunde mussten zwar für die Infrastrukturen bezahlen, die Inhalte aber wurden durch die frühen Nutzer selbst bereitgestellt, und kommerzielle Angebote taten sich zunächst schwer, Aufmerksamkeit zu erregen. So notierte die Zeit noch 1995: „Glaubt man den Protagonisten, wird [das Web] die gesamte Wirtschaftswelt revolutionieren. Allerdings herrscht zur Zeit nichts als Chaos.“ (Luetge 1995)

Das frühe Web galt als Medium für den freien Datenaustausch, das weder zentral gesteuert noch politisch oder wirtschaftlich lanciert wurde, und entsprach so in idealer Weise den Hoffnungen vieler Medienkritiker auf eine „Verschiebung der Intelligenz vom Sender zum Empfänger“ (Negroponte 1995: 29): „In dieser Hinsicht ist es das postmoderne Phänomen schlechthin, weil es im Netz keine totalitären Instrumente mehr gibt, die Kontrolle über das Denken ausüben können.“ (Bollmann & Heibach 1996: 473) Das neue interaktive Medium befördere „das Ende der herkömmlichen Massenmedien“ (Rötzer 1996: 119), da ein „partizipative[s] Massenkommunikationssystem“ entstehe, in dem sich jeder Nutzer seine Inhalte selbst zusammenstellen könne (Höflich 1996: 13). „Kaum jemand“, fasste Wehner (1997: 99) die Diskussion zusammen, „bezweifelt, dass es zukünftig immer weniger Zuschauer oder Leser geben wird, die sich freiwillig den Programmdiktaten der Massenmedien beugen“.

Die Transformationserwartungen gingen mithin von Beginn an über Verschiebungen im medialen Bereich hinaus: Jim Warren proklamierte die „Cyberdemokratie“, denn „die großen Verlierer der Online-Technologien sind Parteien und Bürokratien“, und Alvin Toffler versicherte, das Internet eröffne „ungeahnte Möglichkeiten, an politischen Entscheidungen teilzunehmen“ (z.n. Siegele 1996). Weitere Kommentatoren erhofften sich eine „kollektive Intelligenz“ (Lévy 1997: 45), durch welche „die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge“ erlangen könnten (Maresch 1997: 209). „Mit dem Internet“, notierte Mark Poster (1997: 170) in Rekurs auf Habermas (1962), sei ein „subversive[s] Medium“ entstanden, das „dezentrale und damit demokratischere Kommunikationsstrukturen fördert“ (vgl. Apprich/Stadler 2012).

Neben diesen positiven Visionen versuchten sich auch kritische Stimmen Gehör zu verschaffen: Stanislaw Lem (1996: 108) etwa monierte, dass das Netz „seine Tore einem jeden [öffnet], der betrügen […] und Geheimnisse aushorchen will“, und „wertloses Gerede […] [zur] höchsten Potenz bringen [wird]“; Heinz Bonfadelli (1994) wies darauf hin, dass sich der Begriff „digital divide“ nicht nur auf Zugriffsmöglichkeiten, sondern auch auf Nutzerkompetenzen beziehen ließe; und Hans M. Enzensberger (2000: 96) verwarf mit Blick auf seinen „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ (1970) „die Prophezeiung von der emanzipatorischen Kraft der neuen Medien. Nicht jedem fällt etwas ein, nicht jeder hat etwas zu sagen.“ In der Menge an Revolutionsrhetoriken gingen solche Anmerkungen aber zumeist unter: Noch zur Jahrtausendwende schrieb etwa der marxistisch geprägte Manuel Castells (2001: 429, 435) von einer „Macht der Ströme“, die „Vorrang [erhält] vor den Strömen der Macht“, und auch eine internationale Delphi-Studie unter Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zeigte, dass die Erwartungen an das Internet zu dieser Zeit überaus hoch waren (Beck et al. 2000: 70).

Die ARD/ZDF-Onlinestudie resümierte allerdings bereits 1998, dass von gesellschaftsübergreifenden Veränderungen bisher kaum die Rede sein könne: „[D]as Internet [wurde] vielfach als bahnbrechende Kulturleistung, nur vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks, dargestellt. Die Mitte der 90er Jahre brachte jedoch die Erkenntnis, daß sich Onlinedienste nicht so schnell wie erwartet in der Bevölkerung durchsetzen“ (Eimeren et al. 1998: 11): 1997 verfügten erst 7 Prozent der Deutschen über einen Online-Anschluss, und nur 10 Prozent davon beschrieben sich als tägliche Nutzer. Bis 2000 erhöhte sich die Anzahl der Onliner zwar auf 29 Prozent, und bis 2011 wuchs deren Anteil auf 73 Prozent an. Die durchschnittliche Nutzungsdauer für das Internet lag jedoch auch noch 2011 weit hinter den Werten für TV und Radio zurück (Tab. 2).

Web-Nutzer

1997

2000

2011

Bevölkerung BRD (%)

7

29

73

— davon tägliche Nutzer (%)

10

34

76

unter 30 Jahre (%)

10

52

99

Dauer Fernsehnutzung (Min./Tag)

196

203

229

Dauer Internetnutzung (Onliner, Min./Tag)

2

17

80

Dauer Hörfunknutzung (Min./Tag)

175

205

192

Tabelle 2: Entwicklung der Onlinenutzung in der BRD
Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 1997-2011
(Bevölkerung BRD ab 14 J.; Onliner ab 14 J.)  

Für die deutsche Gesamtbevölkerung zeigt die ARD/ZDF-Onlinestudie für das Jahr 2000 zudem, dass in der mindestens wöchentlichen Nutzung lediglich das Verfassen bzw. Empfangen von E-Mails, das ziellose Surfen, der Dateien-Download, Homebanking und der Abruf von Nachrichten bei zumeist klassischen massenmedialen Anbietern Anteile über 40 Prozent erreichen konnten (Tab. 3). Special-Interest- und interaktive Kommunikationsangebote (z.B. Chats, Foren) hingegen wurden deutlich seltener angesteuert. Eine Segmentierung nach Sinus-Milieus (soziale Lage und Grundorientierung) für die BRD belegt darüber hinaus, dass sich die Onliner noch 1999 zum Großteil aus den sozialen Leitmilieus speisten, während die kleinbürgerlichen Milieus noch kaum mit dem Internet in Kontakt gekommen waren (Schenk & Wolf 2000).

Viele Erwartungen aus der Gründerzeit des Web konnten sich also bis zur Jahrtausendwende kaum erfüllen: Auch wenn im Jahr 2000 über 30 Prozent der Gesamtbevölkerung (BRD) über einen Onlinezugang verfügten, deuteten die Daten zur Nutzungsdauer kaum auf eine Erosion massenmedialer Strukturen hin, sondern erweckten eher den Eindruck, dass das Gros der Onliner nach wie vor primär an ‘lean back’-Rezeption und weniger an inhaltlicher Partizipation interessiert war. Nach dem Platzen der ‘Dotcom’-Blase im gleichen Jahr zog denn auch eine gewisse Nüchternheit in die öffentliche Diskussion ein: „Das Netz verändert die Gesellschaft weniger als vermutet“, notierte der Spiegel (2000: 231), und die Zeit bilanzierte, dass „von den hochfliegenden Prognosen […] nicht sonderlich viel eingetroffen ist“ (Damaschke 2001).

 

 

1997

1999

2000

2000: häufig

2011: häufig

E-Mails

78

89

93

82

80

Zielloses Surfen

n.a.

77

81

55

83

Aktuelle Nachrichten

kostenfreie Infos: 83

kostenpflichtige Infos: 66

62

65

46

61

Serviceinformationen

71

71

38

44

Regionale Infos

58

58

26

45

Sportinformationen

n.a.

47

25

31

Gesprächsforen, Chats

33

47

52

24

21/36*

Computer-/Onlinespiele

13

41

49

23

17

Homebanking

36

41

47

40

32

Onlineshopping

14

35

45

12

7

Tabelle 3: Schwerpunkte Onlinenutzung
(Auswahl, Onliner BRD, „je genutzt“, in Prozent)
Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 1997-2011
(häufig =wöchentlich+), *incl. Social Networks

 

4    Social Media im ‘Web 2.0’

Nach einer Phase der Desillusionierung zwischen 2000 und 2004 bildeten sich ab 2005 erneut weitreichende Visionen um das ‘Web 2.0’ heraus. Der Ausdruck wurde bereits durch Darcy DiNucci (1999) eingeführt, erlangte jedoch erst durch einen Artikel von Tim O’Reilly (2005) Bekanntheit und avancierte danach zum Synonym für eine neue Aufbruchsstimmung um das Web: So schrieb Mario Sixtus (2005) vom Heranwachsen eines „Geflecht[s] von Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten, die den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen“, während Kevin Kelly (2005) die Vernetzung im ‘Web 2.0’ als „the largest, most complex, and most surprising event on the planet“ charakterisierte: „In the near future, everyone alive will (on average) write a song, author a book, make a video, craft a weblog, and code a program. […] Who will be a consumer? No one.“ Aus der Erwartung, dass die Potentiale des spätestens mit dem ‘Web 2.0’ realisierten ‘bidirektionalen Kommunikationsapparats’ (Brecht 1967) nicht nur von den frühen Nutzern, sondern künftig auch von der allgemeinen Bevölkerung ausgeschöpft würden, lassen sich vier interagierende Veränderungserwartungen ableiten:

(1) Die Substitution massenmedialer Strukturen durch nutzerzentrierte Austauschprozesse: Dan Gillmor (2006) charakterisierte das ‘Web 2.0’ als das erste ‘many-to-many’-Medium der Geschichte und vermutete, dass die Tage reiner ‘one-to-many’-Berichterstattung gezählt seien: „Grassroots journalists are dismantling Big Media’s monopoly on the news, transforming it from a lecture to a conversation.“ (Ähnlich: Jarvis 2011) Vorstellungen zu partizipativen Journalismusformen wurden schon seit den 1970er Jahren diskutiert (Drücke 1998), durch Social Media im Web aber erlebten sie nicht nur in den Sozialwissenschaften immensen Auftrieb: Mit Blick auf Wiki­Leaks notierte etwa Christoph Bieber (2011: 475), dass die Öffentlichkeit zwar „heute noch auf die Mitwirkung etablierter Akteure aus der Welt der ‘alten Massenmedien’ angewiesen sein [mag], doch eine Bestandsgarantie gibt hierauf wohl niemand mehr“, und Stephan Münker (2009: 124ff.) resümierte, dass der „Übergang vom analogen Zeitalter elektronischer (Massen-) Medien in die Ära des Digitalen und seiner Netzmedien“ irreversibel sei.

(2) Der wachsende Einfluss der ‘Weisheit der Vielen’: Nicht nur in der Nachrichtenproduktion gewinnt die ‘Schwarmintelligenz’ aus der Sicht vieler Netzevangelisten an Gewicht; auch auf anderen Feldern der Wissensorganisation sollen Experten einen zunehmenden Bedeutungsverlust erfahren. Die These, dass „die Menge […] in ihrer Gesamtheit besser sein“ kann als klassische Autoritäten, wurde schon durch Aristoteles (1973: III, 11) vertreten und auch mit Bezug auf das Internet bereits in den 1990er Jahren erörtert (Karger 1999). In den letzten Jahren aber wurde sie zu einer weitläufig vertretenen Zukunftserwartung: Howard Rheingold (2002) entzündete die Diskussion um eine Erweiterung der kollektiven Intelligenz durch das Web neu und James Surowiecki (2004) prägte wenig später die Vorstellung der ‘Weisheit der Vielen’ (vgl. Horn & Gisi 2009; Miller 2010), die mit dem Erfolg der Open-Content-Enzyklopädie Wikipedia augenscheinlich eine unmittelbare Bestätigung fand (z.B. Pentzold 2007; Stegbauer 2009).

(3) Die Auflösung der Rollenverteilung zwischen Produzenten und Konsumenten: Eng verbunden mit dem Siegeszug der Wikipedia ist überdies die These eines Wandels des klassischen Konsumenten zum ‘Prosumenten’: So notierte etwa Jörg Bienert (2007: 6), die Rezipienten würden „zu aktiven, gleichberechtigten Teilnehmern“, und Frank Hornig (2006: 62, 71) beobachtete Mitte 2006, dass das „Internet [.] zu einem bunten, chaotischen Mitmach-Marktplatz geworden […] [sei]. Bislang bestimmten Intendanten, Regisseure, Journalisten das Programm – kurz: Profis. Jetzt erhebt sich aus jedem einzelnen Zuschauersessel Konkurrenz.“ Axel Bruns (2010: 204) merkte indes an, dass Tofflers (1980) Prosumer-Konzept kaum mehr ausreiche, um alle Spielarten der Online-Partizipation zu umschreiben, und schlug vor, zwischen ‘Prosumenten’ in Crowdsourcing-Prozessen und ‘Produzern’ im Open-Source- und Open-Content-Bereich zu unterscheiden, welche „von industrieller Produktion unabhängig aktiv“ seien. Allgemeinhin aber werden all diese Ausprägungen unter den Begriff ‘Prosumer’ gefasst (z.B. Kautsch 2011).

(4) Eine Demokratisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse: Die Annahme, dass künftig nicht nur die Social-Web-Intensivnutzer, sondern eine Vielzahl der Onliner zu ‘Prosumenten’ würden, führte überdies zu der Vorstellung einer allgemeinen Demokratisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse durch das Web: „Ähnlich wie bei der Demokratisierung des Wissens à la Wikipedia findet nun […] eine weltweite Demokratisierung [..] der Willens- und Bewusstseinsbildung statt“ (Sury 2008: 270), da nun „alle ihren Einfluss geltend machen können, unabhängig von Herkunft, Kontostand, Beziehungsnetz“ (Grob 2009). William Dutton gab im Spiegel (2011) zu Protokoll, das Web mache „die Demokratie pluralistischer“ und die Zeit rief die „Facebookratie“ aus (Stolz 2011; vgl. Leistert & Röhle 2011). Auch im sozialwissenschaftlichen Diskurs wurden ähnliche Thesen zur netzvermittelten Demokratisierung rege aufgegriffen (z.B. Winter 2010; Engesser & Wimmer 2009; Castells 2009; Moorstedt 2008).

Kritische Anmerkungen fanden derweil lange kaum Anschluss: Zwar beschrieben einige Kommentatoren die „Diskutanten des Netzes [als] Diskurstod“ (Graff 2007; Lovink 2007), derartige Anmerkungen wurden aufgrund ihrer einseitigen Färbung aber rasch als „kulturpessimistischer Alarmismus“ (Freyermuth 2010; Glaser 2010) eingestuft. Jürgen Habermas (2008: 162) hingegen setzte sich deutlich unaufgeregter mit den Rückwirkungen des Internet auf die Öffentlichkeit auseinander und kam zu dem Schluss, dass das Web zwar in repressiven Regimen durchaus demokratisierend wirken könne, in liberalen Staaten aber keine „funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen der Massenmedien“ liefere. Auch seine Eingaben wurden allerdings zunächst als rückwärtsgewandt eingestuft: So vermutete etwa Bruns (2007), „that Habermas is either unwilling or unable to translate his public sphere model […] to the network age“ (vgl. Jarchow 2008). Mittlerweile jedoch werden seine Anmerkungen im medienwissenschaftlichen Diskurs als relativierendes Momentum aufgenommen (Neuberger 2010) und auch in der Öffentlichkeit werden kritische Positionen (z.B. Lanier 2010; Morozov 2011) diskutiert.

Das Ende der Massenmedien, die ‘Weisheit der Vielen’, die Demokratisierung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse – all diese positiven (wie auch einige apokalyptische) Vorstellungen implizieren, dass sich die neuen Partizipationsmöglichkeiten langfristig nicht nur in eingegrenzten Kreisen, sondern gesamtgesellschaftlich durchsetzen. Und sofern pauschal gefragt wird, wer „zumindest selten“ ‘Web 2.0’-Angebote nutzt, lassen sich auch im deutschsprachigen Raum hohe Diffusionswerte feststellen: 2011 nutzten ca. 70 Prozent der Onliner Wikipedia, 58 Prozent griffen auf Videoportale zurück, 42 Prozent verweilten in Social Networks, 7 Prozent lasen Blogs und 3 Prozent nutzten Twitter (ARD/ZDF 2011). In der mindestens wöchentlichen Nutzung wiesen indessen nur Social Networks und Videoportale hohe Werte auf, während (Micro-)Blogs auf einem sehr niedrigen Niveau verharrten (Abb. 1). Die Daten der ARD/ZDF-Onlinestudie suggerieren zudem (vgl. PWC 2008), dass die primär jungen Alltagsnutzer von Social Networks eher an Unterhaltung bzw. Individualkommunikation und weniger an aktueller (politischer) Information interessiert sind (Eimeren & Frees 2011; Ridder & Engel 2010).

 

Abbildung 1: Mindestens wöchentliche Nutzung durch deutschsprachige Onliner (in Prozent). Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudie 2007–2011


Videoportale werden bis dato ebenfalls primär von den jüngeren Onlinern genutzt (ARD/ZDF 2011) und deren Präferenzen für unterhaltende Inhalte wirken sich auch auf die Ranglisten der meist rezipierten Videos auf Youtube.de aus (Schrape 2011): Die 50 populärsten Videos bestanden Mitte 2011 zu ca. 60 Prozent aus kommerziellen Musikvideos, TV-Ausschnitten oder Werbung; Nachrichten oder politische Berichte spielten mit 2 Prozent kaum eine Rolle. Nur 7 Prozent der Onliner gaben an, jemals auf Videoportalen publiziert zu haben (Busemann & Gscheidle 2011: 363), und auch in anderen Fällen blieb das Veröffentlichungsinteresse gering (Abb. 2).

Differenziertere Daten zur aktiven Nutzung von Social Media weisen ebenfalls kaum darauf hin, dass die erweiterten Publikationsmöglichkeiten bis dato verbreitete Annahme erfahren (ARD/ZDF 2011): Zwar wurden Videoportale und Wikipedia im Jahr 2011 von einem Drittel der deutschen Onliner wöchentlich genutzt, aber nur wenige haben dort jemals etwas publiziert (3–7 Prozent). Im Falle von Blogs und Twitter liegen die entsprechenden Werte zwar höher (42–61 Prozent), allerdings werden diese Angebote wiederum von der Allgemeinheit kaum rezipiert (Abb. 1), zumal sich deren regelmäßige aktive User – wie im Falle von Wikipedia (Schroer & Hertel 2009) – aus sehr spezifischen Bevölkerungssegmenten speisen (IMK 2011).

 

Abbildung 2: Interesse daran, aktiv Inhalte im Web zu publizieren (Onliner, in Prozent). Quelle: Busemann & Gscheidle 2011: 361, 2010: 360, 2009: 357; Fisch & Gscheidle 2007, 2008

Darüber hinaus zeigen Contentstudien, dass Weblogs in vielen Fällen vordringlich der Selbstdarstellung oder dem semiprivaten Austausch dienen und die Blogosphäre durch einen ähnlichen ‘Matthäus-Effekt’ gekennzeichnet ist wie die Wissenschaft: Wer bekannt ist, wird häufig verlinkt, wer unbekannt ist, erhält meist keinen Link zurück (Schrape 2010: 168; Schmidt, Frees & Fisch 2009). Selbiges gilt nach einer internationalen Studie auch für den Microblogging-Dienst Twitter, auf dessen Plattform 2010 ca. 2 Prozent der Nutzer für 60 Prozent der Inhalte verantwortlich zeichneten (Sysomos 2010). In einer qualitativen Untersuchung von 5042 deutschsprachigen Tweets stellte sich überdies heraus, dass sich die Mehrzahl der Beiträge um private oder technische Inhalte bzw. Ratgeber-Themen drehte, während sich nur 8 Prozent der Beiträge als politische Tweets charakterisieren ließen (Karbautzki 2011), und eine Analyse zu den meist empfohlenen deutschsprachigen Artikeln auf Facebook, Google+ und Twitter für das Jahr 2011 bestätigt den Eindruck, dass die Inhalte massenmedialer Anbieter (wie Bild oder Spiegel) auch im Social Web eine wesentliche Rolle spielen (Schröder 2012).

Mit Blick auf die Gesamtbevölkerung können nutzergenerierte Inhalte denn auch bislang kaum mit etablierten Quellen für tagesaktuelle Informationen konkurrieren: Auf die Frage, wo sie sich gestern über das aktuelle Geschehen informiert hatten, gaben 69 Prozent der Befragten der für die BRD repräsentativen AWA-Studie 2011 (ifd 2011) an, das Fernsehen genutzt zu haben, während 49 Prozent die Zeitung, 35 Prozent das Radio und 18 Prozent das Web nannten. Gleichwohl steigt die Relevanz der Online-Medien als Nachrichtenquelle stetig an und lag bei den 14 bis 29-Jährigen 2011 erstmals über der gedruckten Zeitung, wobei hinsichtlich dieser Werte allerdings berücksichtigt werden sollte, dass die Online-Portale von klassischen Print-Anbietern wiederum zu den meist aufgerufenen Seiten im Web zählen (Alexa 2011).

Sukzessive wächst auch die Bedeutung von nutzergenerierten Inhalten in der journalistischen Recherche: Während soziale Medien vor wenigen Jahren noch kaum eine Rolle spielten (Machill & Beiler & Zenker 2008), gab die Mehrheit der Teilnehmer einer Redaktionsleiterbefragung 2010 an, Social Media zuweilen als Quelle zu nutzen (Neuberger & Hofe & Nuernbergk 2010: 55). Häufig wurden Blogs von 30 Prozent, Social Networks von 22 Prozent und Twitter von 12 Prozent eingesetzt, wobei der Fokus mithin auf aktuellen Stimmungsbildern lag. Nichtsdestotrotz gelang es Bloggern in den letzten Jahren immer wieder, Themen in der Öffentlichkeit zu setzen (Schrape 2010: 187), allerdings zeigen die zwei folgenden Beispiele, dass die (Diffusions-)Leistungen nutzerzentrierter Austauschprozesse differenziert beleuchtet werden sollten:

  • Im Mai 2010 gab Horst Köhler ein Interview, in dem er (scheinbar) eine Verknüpfung von Wirtschaftsinteressen und militärischen Auslandseinsätzen beschrieb (Dradio 2010). Die Massenmedien reagierten zunächst kaum auf das Thema, wohl aber einige Blogger (z.B. Graunke 2010; Feynsinn 2010), weshalb nach seinem Rücktritt nicht nur das Heute Journal (ZDF 2010) die Erzählung „Köhler von Bloggern zu Fall gebracht“ verbreitete. Die allgemeine Öffentlichkeit reagierte jedoch erst auf das Interview, nachdem der Deutschlandfunk (2010) und der Spiegel (2010) Köhlers Aussagen erneut aufgegriffen hatten, weshalb der in der Affäre zentrale Blogger Jonas Schaible (2010) resümierte: „Auch alle Blogger Deutschlands zusammen [haben] Horst Köhler nicht gestürzt. Dazu fehlt es der so genannten Blogosphäre […] an Relevanz. […] Was die Gesamtheit der Blogs wohl getan hat, war, […] den etablierten Medien zu signalisieren: Hier interessieren sich Menschen für das [.] Interview.“
  • Norbert Bolz (2011: 275) umschrieb das GuttenPlag-Wiki als „eine eindrucksvolle Manifestation der Weisheit der Vielen“, die zeige, dass „Link und Voice im Netz [.] mächtiger als alle Schlagzeilen und Breaking News“ sind. Berücksichtigt werden sollte allerdings, dass die Affäre durch einen Bericht in der Süddeutschen Zeitung (Preuß & Schultz 2011) bzw. durch die Plagiatsfunde des Rechtswissenschaftlers Andreas Fischer-Lescano angestoßen wurde und die ‘Weisheit der Vielen’ in diesem Fall eher die Weisheit einer spezifischen Teilöffentlichkeit war: Eine Online-Umfrage auf der Plattform im Februar 2011 zeigte, dass 82 Prozent der GuttenPlag-Nutzer männlich waren, 60 Prozent über einen Hochschulabschluss verfügten, 59 Prozent über etablierte Massenmedien auf das Projekt aufmerksam geworden waren und sich lediglich ein „harter Kern von 143 GuttenPlaggern“ mit der Suche und Kategorisierung von Fundstellen befasste (Ruppert & Reimer 2011).

Die umrissenen Fallbeispiele und die referenzierten Daten zu den bisherigen Nutzungspräferenzen der deutschsprachigen Onliner deuten folglich kaum auf eine baldige Substitution massenmedialer Strukturen durch nutzerzentrierte Prozesse hin: Innovative Inhalte können durch die Online-Technologien in Teilöffentlichkeiten schneller sichtbar werden, massenmediale Anbieter spielen jedoch nach wie vor eine wesentliche Rolle in ihrer übergreifenden Verbreitung. Zudem speisen sich passive wie aktive Social-Media-Nutzer bislang aus eng definierten Bevölkerungssegmenten, die sich entgegen der verbreiteten Vorstellung der ‘digital natives’ nicht pauschal mit den jungen Altersgruppen gleichsetzen lassen (Feierabend & Rathgeb 2011). Nach dem gegenwärtigen Beobachtungsstand vollziehen sich die Veränderungen jedenfalls kaum so radikal und ubiquitär wie vermutet – weder in der BRD noch in den USA, die oft als ‘Web 2.0’-Vorzeigeland beschrieben werden (vgl. für Daten zur regelmäßigen Nutzung: Pew 2011).

 

3    Wiederkehrende Erwartungen

Viele der Veränderungserwartungen, die derzeit an die sozialen Medien im ‘Web 2.0’ geknüpft werden, sind also nicht erst in den letzten Jahren entstanden, sondern wurden bereits an die neuen Medien der 1970/80er Jahren geknüpft: Schon die „Bildkassette“ sollte eine essentielle Unabhängigkeit von massenmedialen Sendeanstalten ermöglichen, der Bildschirmtext sollte es seinen Nutzern gestatten, an wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen unmittelbar teilzuhaben, das Kabelfernsehen sollte zur Schaffung basisdemokratischer Strukturen beitragen, und zeitgleich kursierten Utopien um ein reaktives Kommunikationssystem, das eine Überwindung der Rollenverteilung zwischen Konsumenten und Produzenten befördern sollte.

Auch in den Diskussionen um das Internet in den 1990er Jahren und im Diskurs um das ‘Web 2.0’ war und ist von der Substitution massenmedialer Strukturen durch nutzerzentrierte Austauschprozesse, einem Wandel der Konsumenten zu ‘Prosumenten’ und einer netzvermittelten Demokratisierung der Gesellschaft die Rede. Mit Blick auf die bislang beobachtbaren Nutzungspräferenzen und die inhaltlichen Qualitäten im Social Web sieht es jedoch kaum danach aus, dass der überwiegende Teil der deutschsprachigen Onliner die erweiterten Möglichkeiten zur inhaltlichen bzw. politischen Partizipation bald ausnutzen könnte: Social-Media-Angebote, welche die Berichterstattung der Massenmedien ergänzen könnten, werden von der allgemeinen Bevölkerung bislang kaum regelmäßig rezipiert; Social Networks dienen primär dem semiprivaten Austausch; die Blogosphäre spielte als Themenmacher für die allgemeine Öffentlichkeit in den letzten Jahren zwar hin und wieder eine Rolle, kann aber augenscheinlich (noch) kaum in tagesaktueller Frequenz mit den Selektionsleistungen journalistischer Anbieter konkurrieren.

Bis dato konnten sich die genannten Visionen zu den gesellschaftlichen Effekten interaktiver Medien also kaum erfüllen, sondern sind – gemessen an ihrer Radikalität – von den graduelleren und diversifizierteren Entwicklungen immer wieder enttäuscht worden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, weshalb ähnliche Veränderungserwartungen regelmäßig erneut Verbreitung erfahren: Das populäre Konzept eines Gartner-“Hype Cycles“ (Fenn 2008) zugrunde gelegt, hätte z.B. die Erwartung, „that an innovation will substitute or replace existing ways of doing things“ (Geels & Smit 2000: 881), nach einer Phase der Desillusion in ein ‘plateau of productivity’ einmünden müssen, das durch adäquatere Einschätzungen zu den Rückwirkungen neuer Medien gekennzeichnet ist. Tatsächlich aber wurden nach einer gewissen Karenzzeit mehr oder minder dieselben radikalen Erwartungen formuliert.

Erste erklärende Hinweise für das wiederkehrende Auftreten vergleichbarer Zukunftsvorstellungen finden sich in den skizzierten Visionsverläufen: Sowohl im Falle der neuen Medien der 1970/80er Jahre als auch in der Gründerzeit des World Wide Web und in der Diskussion um das ‘Web 2.0’ konnten sich journalistische bzw. wissenschaftliche Beobachter zunächst einzig auf die Erfahrungen und Einschätzungen der frühen Nutzer stützen, die jedoch aus spezifischen Überzeugungen heraus Teil dieser ‘early adopters’ sind: Im Falle kommunikationstechnischer Innovationen lassen sich die frühen Nutzer als jung, gebildet, technikaffin sowie zumeist als männlich, freizeitreich und einkommensstark umschreiben (Schenk 2007; Rogers 2003). Sie stammen also aus spezifischen sozialen Milieus, und es bleibt anzunehmen, dass die damit einhergehenden Prägungen die Konstruktion von Erwartungen ebenso mitbestimmen, wie in den entsprechenden Kommunikationskontexten der Druck entstehen kann, sich gegenüber bestimmten Zukunftsbildern zustimmend oder ablehnend zu positionieren (Konrad 2006: 434). Dazu kommt, dass die jeweiligen Erwartungen in vielen Fällen aus im- oder expliziten Interessenlagen heraus formuliert werden bzw. in der Kommunikation dezidierte Funktionen wie Unsicherheitsabsorption, Motivation, Koordination oder Legitimation erfüllen (Borup et al. 2006).

Sobald solche in spezifischen Teilöffentlichkeiten konstruierten Zukunftserwartungen indes gesamtgesellschaftliche Veränderungen in Aussicht stellen, steigt die Wahrscheinlichkeit für deren Reflexion durch die Massenmedien, verstanden nicht als Konglomerat aus spezifischen technischen Kanälen und Organisationen, sondern als soziales Sinnsystem, das auf die Selektion und Verbreitung übergreifend relevanter Unterschiede abgestellt ist (Luhmann 1996). Dabei kam es in den beobachteten Fällen offenbar zu Komplexitätsreduktionen in drei Bereichen:

  • Zeitliche Dimension: Die Visionen um das jeweils aktuelle interaktive Medium wurden von vorangegangenen Erwartungsverläufen entkoppelt und so als ‘neu’ gekennzeichnet.
  • Sachliche Dimension: Die anhand von Fallbeispielen gewonnenen Eindrücke zu den Transformationspotentialen wurden generalisiert und von ihren sachlichen Kontexten isoliert.
  • Soziale Dimension: Die Erfahrungen der frühen Nutzer wurden auf die künftige Bevölkerungsmehrheit verlängert, ohne deren spezifische soziale Situierung zu reflektieren.

Diese nivellierenden Beschreibungen zogen einerseits weitere Nutzer mit ähnlichen Überzeugungen an, wodurch die jeweiligen Erwartungen zeitweilig das Wesen einer ‘self-fulfilling prophecy’ (Merton 1948) anzunehmen schienen, und wirkten andererseits auch auf wissenschaftliche Diskurse zurück, wobei sich viele Sozialwissenschaftler überdies selbst dem Kreis der frühen Nutzer zurechnen lassen. In diesem Prozess sich wechselseitig festigender Erwartungen rückte mithin die Frage in den Hintergrund, was für die allgemeine Bevölkerung möglicherweise auch gegen die Adaption der neuen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten oder für die Beibehaltung eingespielter Rezeptions- und Nutzungsmodi sprechen könnte: Vieles deutet beispielsweise darauf hin, das Kommunikations- wie Bewusstseinssysteme gerade in einer Zeit, in der die Beobachtungsmöglichkeiten technikvermittelt erheblich ansteigen, auf erwartungssichere Selektions- und Aggregationsstellen angewiesen bleiben, um erinnernswerte bzw. vernachlässigbare Umweltveränderungen zu identifizieren und sich einen Überblick über gesamtgesellschaftlich relevant gesetzte Entwicklungen zu erhalten (vgl. Schrape 2011).

Es lässt sich also vermuten, dass die skizzierten Erwartungen um interaktive Medien mehrmals Wiederholung erfahren konnten, weil in der Beobachtung der frühen Nutzer immer wieder sachliche sowie soziale Spezifika nivelliert und die Enttäuschungen vorangegangener Zukunftsvorstellungen vergessen wurden (Luhmann 2000: 338). Dazu kommt, dass sich insbesondere das Internet als ‘many-to-many’-Medium in (scheinbar) idealer Weise mit zentralen Postulaten der Aufklärung in Bezug bringen lässt, so z.B. die Forderung nach der „Freiheit […] von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen“ sowie „seinem Publikum zur Beurtheilung vorzulegen“ (Kant 1784). Allerdings hat bereits Alexander Roesler (1997: 191f.) auf den „Grundirrtum“ hingewiesen, dass „Öffentlichkeit ein technisches Problem darstellt, das sich mit den geeigneten technischen Instrumentarien lösen läßt“:

Das Internet wird [.] den Traum der Aufklärung nach vollständiger Gleichheit in der Konstituierung von Öffentlichkeit nicht verwirklichen können. Es bleiben Selektionskriterien erhalten, sie werden bloß […] verschoben. […] wie jedes Werkzeug prinzipiell von allen genutzt werden kann, aber nicht benutzt wird, so wird auch das Internet eine ideale Öffentlichkeit nicht verwirklichen, nur weil es ein anderes Werkzeug ist. […] Das Wesentliche ist das Interesse – daran wird auch das Internet nichts ändern.

Dennoch aber lassen sich die Onlinetechnologien zweifellos als eine äußerst zentrale Einflussgröße sozialen Wandels fassen, schon alleine da sie die Kommunikation auf allen Feldern drastisch effektivieren. Welche langfristigen Veränderungen aber dadurch angestoßen werden, lässt sich auch aufgrund der Vielzahl an interagierenden Variablen heute noch kaum absehen. Vor diesem Hintergrund sollte es den Sozialwissenschaften in der Beobachtung medialen Wandels denn auch weniger darum gehen, sozialphilosophisch wünschenswerte Revolutionsrhetoriken weiterzutragen, als vielmehr wiederkehrende Erwartungsmythen zu identifizieren und die zumeist graduelleren und vielschichtigeren Transformationsverläufe differenziert nachzuzeichnen.

 

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